Ein Kopfstand in Sachsen

Warum der Satz über die Evangelikalen „Ein christlich-fundamentalistischer Glaube unterscheidet nicht zwischen religiöser Gewissheit und staatsbürgerlichen Freiheiten“ völliger Unsinn ist.

Die Autorin des Textes ‚Evangelikale in Sachsen‘ (Jennifer Stange. Evangelikale in Sachsen. Dresden: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 2014) macht viel Aufhebens darum, dass Evangelikale keinen rein privaten Glauben befürworten, sondern ihr Glaube an die Öffentlichkeit will und dass sie die Welt verändern und die Politik beeinflussen wollen (S. 7). Ja mei, leben wir in einer Demokratie oder nicht? Und die Heinrich-Böll-Stiftung beschränkt dichterisches Schaffen rein aufs Private und will nicht die Politik beeinflussen? Und muss man neuerdings für das, was jede Weltanschauung in unserem Land in den demokratischen Diskurs einbringt, vorher irgendwo um Erlaubnis bitten, ob man für das Konzert der Meinungen überhaupt zugelassen ist? Vielleicht bei der Heinrich-Böll-Stiftung?

Die Untersuchung der Autorin greift wahllos Statements von Privatpersonen und Webseiten auf. Sie studiert nicht die offiziellen Quellen und Statements (z. B. das Grundsatzpapier der Deutschen Evangelischen Allianz ‚Suchet der Stadt Bestes‘), sondern erhebt die zitierten Beispiele zum Standard. Dabei werden auch schnell ungenannte Kirchengemeinden und die „konfessionell gebundenen“ Christen (S. 27) und andere mit hineingerührt. Angesichts der enormen Spannbreite, die die evangelikale Bewegung umfasst, lässt sich da schnell etwas finden. Es wird aber nicht belegt, dass die jeweiligen Aussagen und Positionen Aussagen der Evangelikalen an sich oder der offiziellen Standesvertretungen der Evangelikalen wären. Das wäre so, als würde man die SPD im Lichte der Äußerungen jedes SPD-Mitglieds darstellen, von dem sich Äußerungen finden lassen.

Aber ich will mich hier eigentlich nur auf einen Absatz in meinem Kommentar beschränken, der grundfalsch ist und die Sicht der Evangelikalen mutwillig in ihr Gegenteil verkehrt:

„Dieser Anspruch deutet ein grundlegendes Problem an, das zur zentralen These dieses Beitrags führt: Ein christlich-fundamentalistischer Glaube unterscheidet nicht zwischen religiöser Gewissheit und staatsbürgerlichen Freiheiten. Bibeltreue Christen vertreten und verbreiten eine kompromisslose Glaubensauffassung, die sich zum Teil massiv von einem aufgeklärten Glauben, wie zum Beispiel dem liberalen Protestantismus, unterscheidet. Denn wer die Unfehlbarkeit der Bibel propagiert, steht einerseits im latenten Konflikt mit anderen Religionen, anderseits untergräbt ein Glaube, der aufgrund religiöser Absolutheitsansprüche gesellschaftliche Geltungsmacht beansprucht, die Religionsfreiheit als Freiheit von der Religion.“ (S. 7, Hervorhebung hinzugefügt)

Nun brauchte man sich hier als Evangelikaler nicht angesprochen fühlen, ist doch nur von ‚fundamentalistisch‘ die Rede. Aber die Autorin mixt die Begriffe ‚evangelikal‘ und ‚fundamentalistisch‘ fortlaufend und zielt mit diesem Absatz offensichtlich auf die, die Gegenstand ihrer Untersuchung sind, die Evangelikalen.

Mehreres steht hier Kopf.

  1. Die Evangelikalen waren mit die ersten, die für Religionsfreiheit und dabei für eine Trennung von Kirche und Staat eintraten und sind heute noch weltweit im Einsatz für Religionsfreiheit führend (so etwa Allen D. Hertzke. Freeing God’s Children: The Unlikely Alliance for Global Human Rights. Oxford: Rowman & Littlefield, 2004). Bei der Gründung der Weltweiten Evangelischen Allianz 1846, als auch in Sachsen die Kirchen noch den seligen Schlaf der Staatskirchen schliefen, gehörte die Religionsfreiheit zum Gründungsprogramm und wurde in großen Kampagnen europaweit und oft erfolgreich eingeklagt, etwa zugunsten von einigen Schwedinnen, die zum Katholizismus konvertierten. Die Allianz brachte das Anliegen aggressiv beim türkischen Sultan Abdülmecid I., beim deutschen und beim österreichischen Kaiser, bei Reichskanzler Bismarck und einvernehmlich beim amerikanischen Präsidenten vor. Dies hat Gerhard Lindemann in seiner monumentalen Habilitationsschrift „Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus [1846–1879]“ (Münster: Lit Verlag, 2011) nachgewiesen. Dasselbe gilt auch für die Evangelische Allianz in Deutschland (z. B. Karl Heinz Voigt, Thomas Schirrmacher. Menschenrechte für Minderheiten in Deutschland und Europa: Vom Einsatz für die Religionsfreiheit durch die Evangelische Allianz im 19. Jahrhundert. VKW: Bonn, 2003). 1861 stellte ein französischer Pastor für die Allianz die These auf, dass Religionsfreiheit die staatliche Ordnung stabilisiere und Frieden garantiere, eine damals bei den großen Kirchen höchst umstrittene Sicht, die heute die soziologische Forschung wiederholt bestätigt hat. Lindemann schreibt: „Mit ihrem Engagement für die Religionsfreiheit leistete die Allianz, deren angloamerikanischer Flügel sich nicht mit bloßer Toleranz zufriedengab, sondern das öffentliche Bekennen des Glaubens als ein Grundrecht ansah, auch der Durchsetzung der bürgerlichen Freiheiten in den betreffenden Ländern einen bemerkenswerten Dienst und trug zur Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft nicht unwesentlich bei.“ (S. 943).
  2. Deswegen ist die Trennung persönlicher religiöser Gewissheit von der Aufgabe von Staat und Justiz integraler Bestandteil der Überzeugung der Evangelikalen, was dann oft dazu führt, dass sie sich – leider – gerade nicht politisch und gesellschaftlich engagieren!
  3. Die Bibel lehrt die Evangelikalen gerade, dass Mission nie Sache des Staates sein darf und der Staat keiner Kirche oder Religion hörig sein darf. Aus ‚Fundamentalismus‘ (so jedenfalls die Sprachregelung der Autorin) sind die Evangelikalen für einen völlig freien Glauben ohne jeden Zwang in religiösen Fragen. Die Formel, dass aus dem Absolutheitsanspruch Jesu die Konsequenz gezogen werden müsste, die Religionsfreiheit in Frage zu stellen, ergibt sich im Kopf der Autorin, nicht im Kopf der Evangelikalen. Denn es ist für Evangelikale gerade dieser Jesus, der den Glauben nicht erzwingen will und seinen Anhängern kein Mandat zu Zwang oder Rache gibt, sondern Respekt und Liebe fordert. Die Religionsfreiheit ist bei den Evangelikalen ebenso im Grundsätzlichsten ihres Glaubens verankert, wie es etwa seit 1965 auch bei der Katholischen Kirche der Fall ist. Im ganzen Heft bringt die Autorin keinen einzigen Beleg, wo Evangelikale fordern, die Religionsfreiheit zu beschränken oder dies gar aktiv tun. Es ist ein reines Hirngespinst: Es muss einfach so sein. Dass man aus der Bibel ‚fundamentalistisch‘ auch Gutes ableiten könnte, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Es ist aber nie empfehlenswert, als Außenstehender ohne Studium der Quellen Schlüsse zu ziehen, was andere eigentlich schlussfolgern müssten. Außerdem sollte in einer Demokratie gelten, dass jeder zunächst einmal für sich selbst sprechen kann und erst dann kritisiert wird. Evangelikale leiten seit Jahrhunderten ‚fundamentalistisch‘ aus der Bibel ab, dass ‚Rassismus‘ falsch ist (deswegen ihr Ursprung in der Anti-Sklaverei-Bewegung) und dass es in Fragen der Religion um den Glauben des Herzens geht, den niemand mit irgendeiner Art des Zwangs bedrohen oder erzwingen darf.
  4. Dass Religionsfreiheit „Freiheit von der Religion“ sei, verrät zwar viel über die Autorin, steht aber im Widerspruch zu dem, was in unserer Demokratie Sache und rechtens ist. Hier ist Religionsfreiheit die Freiheit jeder Religion und Weltanschauung, ihre Überzeugung allein und in Gemeinschaft praktizieren und öffentlich propagieren zu dürfen. Die negative Religionsfreiheit beinhaltet, dass man nicht zur Teilnahme an der Ausübung anderer Religionen und Weltanschauungen gezwungen werden darf. Atheisten haben also nicht nur eine „Freiheit von der Religion“, sondern auch „Freiheit von“ anderen atheistischen und humanistischen Weltanschauungen!
  5. Zu guter Letzt: Die Studie zitiert einen evangelikalen Privatmann, der – meines Erachtens zu Unrecht – die Unterscheidung von Islam und Islamismus ablehnt (wie ihn etwa gerade das Institut für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz propagiert!, siehe das Buch ‚Islamismus‘. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2012). Dieser Privatmann kritisiert laut Autorin „[s]elbst Volker Kauder, den rechtskonservativen evangelikalen Bundestagsabgeordneten der CDU“, „[w]eil Kauder Muslimen die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit zusicherte“ (S. 25). Nun ist die politische Zuschreibung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder sicher eigenwillig, dann könnte man auch die Bundeskanzlerin gleich so einordnen, und nichts spricht dafür, dass Kauder sich selbst als Evangelikalen sieht. Aber nun nennt die Autorin ihn nun einmal so. Doch wie kommt sie darauf? Weil er sich massiv gegen Christenverfolgung und für Religionsfreiheit, auch der Muslime in Deutschland, einsetzt und dabei von niemand massiver als von den Evangelikalen unterstützt wird! Das müsste ja eigentlich ein Widerspruch in sich sein. De facto aber offenbart die Autorin damit, dass man Evangelikale an ihrem Einsatz für Religionsfreiheit erkennt! Als Kauder auf der größten evangelikalen Konferenz zum Thema, die zweijährlich in Schwäbisch-Gmünd stattfindet, ausführlich für die Religionsfreiheit für alle in Deutschland ebenso wie weltweit plädierte, erhielt er tosenden Beifall der Anwesenden.

Fakt ist: Die Weltweite Evangelische Allianz setzt sich im globalen Maßstab ebenso wie die nationalen Allianzen auch für die Religionsfreiheit der Muslime ein. Man schaue etwa einmal auf der Webseite von deren Internationalem Institut für Religionsfreiheit unter dem Reiter „Religionen“ die Meldungen zu Muslimen als Opfer an. Das ist auch der Grund, warum die Schweizerische Evangelische Allianz seinerzeit gegen die Schweizer Minarettinitiative Stellung bezogen hat!

 

Ein Kommentar

  1. Peter sagt:

    falls nicht bekannt; aus dem web kopiert:

    Neulich las ich einen Artikel aus dem Buch von Karlheinz Deschner. Er schrieb es in den 60er-Jahren – Titel: „Was halten Sie vom Christentum?“
    Er bat seine Zeitgenossen um Kommentare. Dazu schrieb Heinrich Böll folgendes:

    „Unter Christen ist Barmherzigkeit meistens möglich, und hin und wieder gibt es sie, Christen, und wo einer hin und wieder auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besseren heidnischen vorziehen, weil es in der christlichen Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab – für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache. Und mehr noch als Raum gab und gibt es Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erscheinen. Ich glaube an Christus und ich glaube, dass 800 Millionen Christen auf dieser Erde das Antlitz dieser Erde verändern könnten, und ich empfehle es der Nachdenklichkeit und Vorstellungskraft der Zeitgenossen, sich eine Welt vorzustellen, auf der es Christus nicht gegeben hätte“. Zitat Ende.

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