Die katholische Fachzeitschrift zu den Religionen in China „China heute“ hat in Heft 1/2012 (173. Ausgabe, 31. Jhrg.), S. 15-20 eine deutsche Übersetzung der „Erklärung des Dalai Lama zur Frage seiner Reinkarnation“ veröffentlicht. (Die Onlinversion des Heftes wird erfahrungsgemäß noch etwas länger auf sich warten lassen.) Eine englische Übersetzung des tibetischen Originals fand sich unter www.dalailama.com/messages/tibet, ist dort aber derzeit nicht mehr zu finden.
Seit 600 Jahren, so der Dalai Lama, gebe es eine zweifelsfreie Linie von Reinkarnationen des Dalai Lama. Der 5. Dalai setzte 1642 eine Regierung ein und seitdem sei der Dalai das religiöse und politische Oberhaupt Tibets.
„Normalerweise muss eine Reinkarnation die Wiedergeburt eines Menschen sein, der zuvor gestorben ist. Gewöhnliche fühlende Wesen sind generell nicht in der Lage, vor ihrem Tod eine Emanation zu manifestieren.“ Aber „höhere Bodhisattvas, die sich in Hunderten und Tausenden von Körpern gleichzeitig manifestieren können, sind dazu fähig“. So könne auch schon zu Lebzeiten ein Anderer als Emanation des Dalai Lama anerkannt werden oder der Dalai Lama könne einen Schüler oder einen anderen jungen Menschen als seine Emanation anerkennen.
Entscheidend sind nun folgende Worte des Dalai Lama, die allgemein formuliert sind, aber natürlich vor allem ihn selbst meinen: „Daher besitzt die Person, die reinkarniert, die alleinige legitime Befugnis, darüber zu entscheiden, wo und wie ihre Wiedergeburt erfolgen und wie diese Reinkarnation anerkannt werden soll.“ Niemand dürfe eine solche Person „zwingen oder manipulieren“, schon gar nicht die namentlich genannten „chinesischen Kommunisten“ beziehungsweise die „Machthaber der Volksrepublik China“.
Im Alter von 90 Jahren [also in eineinhalb Jahrzehnten!], so der Dalai Lama, wolle er sich „mit den hohen Lamas der tibetischen Traditionen“ und anderen treffen und entscheiden, „ob die Institution des Dalai Lama fortbestehen soll oder nicht“. Sei das entschieden, solle ein Rat des Dalai Lama „die einzelnen Oberhäupter der tibetischen buddhistischen Traditionen und die bewährten eidgebundenen Schutzgottheiten des Dharma zu Rate ziehen“.
Was ist neu daran? Durch die neue Erklärung kann die Feststellung des nächsten Dalai Lamas schon zu Lebzeiten seines Vorgängers stattfinden. Zugleich muss es kein Kind mehr sein, sondern es kann ein junger Erwachsener sein, der die Führung direkt selbst übernehmen kann, während früher andere zumindest die politischen Geschäfte des Dalai Lama bis zu dessen Volljährigkeit führen mussten. Die neue Erklärung erwähnt ausdrücklich, dass sie mit den neuen Methoden sicherstellen will, dass die chinesische Regierung keinen Dalai Lama ihrer Wahl einsetzen kann.
Neu ist auch die breite Einbeziehungen aller tibetischen buddhistischen Richtungen, wohl um die breite Akzeptanz des neuen Dalai Lama sicherzustellen.
Religionssoziologisch interessant ist hier, wie eine Religion ihre Anpassung an die politischen Realitäten der Gegenwart wieder einmal nicht als revolutionäre Veränderungen darstellt – was sie tatsächlich sind –, sondern aus alten Traditionen heraus theologisch so begründet, als habe der neue Kurs immer schon gegolten. Auch wird die einfache Tatsache, dass es bei einer Nachfolgefrage immer auch um eine Machtfrage geht, hinter spirituellen Vorgängen verbrämt.
Kürzlich hatte ich kommentiert, dass es erfreulich sei, dass der Dalai Lama seinen, aus seinem religiösen Amt abgeleiteten, politischen Anspruch aufgegeben habe. Schade, dass er das im Dokument zur Nachfolgefrage nicht ebenfalls festgeschrieben hat, so dass sich für alle Zeiten aus dem religiösen Amt kein politischer Führungsanspruch mehr ableitet und das auch seinem Nachfolger verwehrt ist.
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