Evangelische Allianz Darmstadt thematisiert ein menschenverachtendes Tabu

Thomas Schirrmacher während seiner Predigt

Thomas Schirrmacher während seiner Predigt

Um die 1300 Gottesdienstbesucher aus Kirchen und Gemeinden, die sich der „Evangelischen Allianz“ in Darmstadt verbunden fühlen, begingen am Morgen des 20. Januar zwei aufeinander folgende Gottesdienste gleichen Themas: Sklaverei in der Prostitution. Professor Thomas Schirrmacher, ein ausgewiesener Ethiker, wies mit aufschreckenden Fakten darauf hin, wie weitverbreitet und „normal“ in den westlichen Gesellschaften eine verbrecherische Parallelwelt existiert, in der tausende junge Frauen – oft auch junge Männer – in sklavischen Verhältnissen gegen ihren Willen „arbeiten“ müssen. Oft müssen sie 40 bis 60 Mal am Tag für alles bereit sein, was sich „Kunden“ wünschen. Viele wurden mit falschen Versprechungen aus dem Ausland gelockt, in inszenierte Schuldenfallen getrieben, bedroht und aus ausgebeutet. Europa sei das Zentrum dieser Machenschaften, Deutschland ein Hauptdrehkreuz. Es habe die Struktur einer „Industrie“, in der Schwindel erregende Summern verdient werden, die von den Mafia-Systemen eingenommen werden – die missbrauchten Frauen sind an diesen Gewinnen so gut wie nicht beteiligt.

Offensichtlich habe die Gesellschaft und auch die Politik bisher weitgehend „weggeschaut“. Inzwischen werden, so Schirrmacher, dann doch immer mehr Menschen für diese Machenschaften sensibilisiert. Er wies darauf hin, dass es zur ureigensten Tradition der „evangelikalen“ Christen gehöre, schon seit Jahrhunderten ihre Stimme für diese Menschen zu ergeben und sich dafür einzusetzen, dass den missbrauchten Menschen geholfen werde. So hätten im 18. Jahrhundert weitgehend der Bibel verpflichtete Christen in langwierigen Prozessen dafür gesorgt, dass die Sklaverei schließlich geächtet und verboten wurde. Keiner hätte damals ahnen können, dass sich dieses Phänomen in „moderner Form“ Jahrhunderte später wieder ausbreite auf zur Zeit geschätzt 27 Millionen.

Thomas Schirrmacher mit Gaby Wentland

Thomas Schirrmacher mit Gaby Wentland

Pastorin Gabi Wendland von „Mission Freedom“ trug in dem Gottesdienst durch einen Erfahrungsbericht bei, wie sie einzelne Frauen aus den Klauen der Mafia in Hamburg befreien konnten und ihnen zu einer neuen Existenz verhelfen. Dass die traumatisierten Menschen oft durch die Zuwendung zum christlichen Glauben auch psychisch auf einen Weg der Stabilisierung kamen, ermutigte die Teilnehmer der Gottesdienste, sich diesem Thema besonders zuzuwenden. Die City Church in Darmstadt hat sein ca. 8 Jahren einen Hilfsdienst für „gefangene Menschen in der Sexindustrie“. Die Evangelische Allianz, ein Zusammenschluss von Christen verschiedener Kirchen und Freikirchen, hat einen Brief an die Bundestagsabgeordneten in Darmstadt vorbereitet, der von hunderten von Christen während des Gottesdienstes unterschrieben wurde. Das gemeinsame Gebet in den Gottesdiensten war ein „Startschuss“ für  Aktionen, die sich aus dem Thema ableiten sollen.

Demo gegen Menschenhandel und Sklaverei

Die Passanten staunten nicht schlecht, als sie sich gegen 14:30 Uhr plötzlich auf dem Luisenplatz in Darmstadt in einem Labyrinth aus rund 250 „eingefrorene Sklaven“ befand. Die Evangelische Allianz Darmstadt hatte zu der ungewöhnlichen Aktion aufgerufen.

„eingefrorene Sklaven“ beim Flashmob

„eingefrorene Sklaven“ beim Flashmob

Ziel des Flashmobs (einer spontanen Menschenansammlung) war es auf das Thema Menschenhandel und Sklaverei im 21. Jahrhundert hin zuweisen. „Wir leben in einem Zeitalter der Sklaverei“ – so Pastor Marcel Redling der unter anderem auf der sich anschließenden Kundgebung sprach: „Heute gibt es rund 27 Millionen Sklaven – so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.“

Zu dem Flashmob waren Jung und Alt gekommen. Jeder der Teilnehmer hatte ein Pappschild auf dem z.B. zu lesen war „Dodo, 13 Jahre alt, Kindersoldat im Kongo“, „Lylin, 17 Jahre alt, Näherin auf den Philippinen“ oder „Nadja, 19 Jahre alt, Zwangsprostituierte Straßenstrich Darmstadt“ und war ab 14:30 Uhr für 20 Minuten zu einem Labyrinth aus Sklaven „eingefroren“. Die erstaunten Passanten mussten so durch dieses spontane Sklavenmeer gehen, viele blieben still stehen, mancher nickte zustimmend, andere schüttelten betroffen den Kopf.

bei der Kundgebung

bei der Kundgebung

Auf der im Anschluss folgenden Kundgebung erklärten die Initiatoren die ungewöhnliche Aktion: Man wollte den vielen unbekannten Sklaven einen Namen geben – hieß es. Pastor Samuel Diekmann rief die Teilnehmer mit „Viva la Reformation“ dazu auf sich gegen den Menschenhandel und für Freiheit und Gerechtigkeit stark zu machen. Ihm folgte Gaby Wentland von „Mission Freedom e.V.“ – einer Arbeit unter Zwangsprostituierten in Hamburg. Wentland berichtete aus ihrer Arbeit in Hamburg und rief dazu auf auch in Darmstadt und Hessen nicht die Augen vor diesem Problem zu verschließen.

In einem anschließenden „Marsch der Freiheit“ marschierten die Teilnehme unter Polizeischutz durch die Darmstädter Fußgängerzone und demonstrierte lautstark für eine Sensibilisierung und eine gesellschaftliche Ächtung jegliche Form von Ausbeutungen und Versklavung von Menschen.

Die Reden von Pastor Samuel Diekmann und Gaby Wentland können als Podcast nachgehört werden.


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