Aus Anlass des Rücktritts des palästinensischen Ministerpräsidenten Dr. Salam Fayyad am 13.5.2013, den ich sehr bedauere, erlaube ich mir nach der Meldung vom März 2012 im vorletzten Blog und der dabei gehaltenen Rede im letzten Blog ein damals gegebenes Interview zur Lage im Heiligen Land hinzuzufügen.

Thomas Schirrmacher begrüßt Premierminister Salam Fayyad

Thomas Schirrmacher begrüßt Premierminister Salam Fayyad

BQ: Sie haben dem Premierminister Dr. Salam Fayyad Gottes Segen gewünscht. Geht das?

Das Neue Testament fordert uns immer wieder auf, für alle Regierenden zu beten. Zudem segnen Christen alle Menschen, Freunde und Feinde. Im übrigen hat Dr. Fayyad keine islamistische Agenda und ist als Parteiloser derzeit die beste Lösung, weswegen er sicher bald abgelöst wird, sobald sich Fatah und Hamas auf jemand geeinigt haben. Zudem ist es wesentlich Fayyad zu verdanken, dass derzeit im Westjordanland der Terrorismus fast zum Erliegen gekommen ist, eine funktionierende palästinensische Polizei aufgebaut wurde und es eine Konzentration auf echte staatliche Aufgaben statt auf Ideologie gibt.

BQ: War die Checkpoint-Konferenz nicht eine Anti-Israel-Veranstaltung?

Als zu Beginn die verschiedenen angereisten Gruppen begrüßt wurden, gab es tosenden Beifall, als zahlreiche messianische Pastoren aus Israel begrüßt wurden. Ich habe anschließend mit etlichen von ihnen gesprochen. Sie waren sehr zufrieden mit dem Verlauf und dass sie ihre Sicht der Dinge fair und offen darstellen durften.

Beeindruckend – und eben wirklich evangelikal – war für mich das Zeugnis des Direktors des Bethlehem Bible College, der direkt nach mir sprach. Er hat seine Eltern im Sechs-Tage-Krieg 1967 verloren, als seine Familie Israel verlassen musste. Lange habe er deswegen einen tiefen Hass auf Israel und die Juden gehabt. Dann habe er eine Art zweiter Bekehrung erlebt, als Gott ihm auf sein Gebet hin auf wunderbare Weise den Hass genommen und gezeigt habe, dass auch Juden Gottes geliebte Kinder seien. Deswegen setze er sich für eine Versöhnung von Palästinensern und Juden ein und wolle mit dieser Konferenz auch zwischen Christen verschiedener Richtungen das Gespräch ermöglichen und auf Versöhnung hinarbeiten.

Spricht so jemand, dem es nur darum geht, Israel zu schaden? Spricht so jemand, der den anwesenden Premierminister nur billig beeindrucken will?

BQ: Versöhnung unter Christen?

Die Tragik ist, dass die Christenheit nirgends gespaltener ist als im Heiligen Land, oder es zumindest nirgends so plump sichtbar wird. Der historische Streit um die Reliquien und historischen Stätten der Christenheit ist so schlimm wie eh und je, und alle alten Zweige der Christenheit sind daran beteiligt. Die Spannungen zwischen den sechs christlichen Konfessionen, den sogenannten Status-quo-Kirchen von 1853, die die Grabeskirche verwalten, ist da symptomatisch und symbolisch, obwohl sich andere Religionen in einer solchen Situation auch nicht besser verhalten würden.

Nirgends führen auch unterschiedliche politische Auffassungen zu so grundsätzlichen Trennungen zwischen den und innerhalb der Kirchen. Die Evangelikalen machen da keine Ausnahme, auch wenn der Streit bei ihnen zum Teil andere und jüngere Gründe hat. Nirgends ist es schwieriger, wenigstens alle Evangelikalen an einen Tisch zu holen.

BQ: Gibt es Christenverfolgung im Heiligen Land?

Hier muss man deutlich zwischen den von der Fatah und den von der Hamas kontrollierten Gebieten unterscheiden, also zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Im Gazastreifen gibt es Christenverfolgung, die meisten Christen, insbesondere die Konvertiten vom Islam zum Christentum, sind in das Westjordanland umgesiedelt, und da es im Gazastreifen sowieso viel weniger Christen gab, ist deren Zahl inzwischen auf einige Tausend geschrumpft.

Im Westjordanland leben die christlichen Kirchen dagegen in relativer Freiheit. Hauptproblem sind hier diejenigen jüngeren protestantischen Kirchen, die nicht unter dem Besitzstand von 1923 stehen, darunter die evangelikalen Gemeinden, denen in Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten die Anerkennung fehlt, um selbst Hochzeiten usw. durchführen zu können. Sie müssen zum Heiraten nach Zypern gehen, die ausländische Hochzeit wird dann anerkannt. Allerdings gibt es Hoffnungen, dass sich das in absehbarer Zeit zum Guten ändern wird.

Der Unterschied spiegelt natürlich die Gesamtlage wieder, die nicht nur das Christentum oder die Religionen betrifft. Das Westjordanland erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung und erstaunliche Ruhe von terroristischen Aktivitäten. Der Ministerpräsident investiert hier insbesondere in echte Staatenbildung, also in Polizei, Verwaltung, Infrastruktur, Schulen. Die Hamas dagegen ist nach wie vor nicht an einer Kontrolle der Gewalttäter interessiert und lässt Sozialhilfe und Bildung weitgehend nur ihren Anhängern zukommen.

BQ: Geht die Zahl der Christen in Israel zurück?

Die Zahl der Christen im Heiligen Land nimmt nicht ab. Die Zahl der Judenchristen steigt, wenn auch ganz langsam, vor allem unter den eingewanderten Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge aus dem christlichen Südsudan und der vielen christlichen Gastarbeiter aus asiatischen Ländern wie den Philippinen nimmt zu. Nur die Zahl der arabischen Christen geht durch Auswanderung zurück.

BQ: Wie haben sie die ‚Mauer‘ erlebt?

Wer hinter einer solchen Mauer lebt, egal ob sie berechtigt ist oder nicht, und auch wenn man weiß, dass sie nur teilweise sehr hoch und massiv ist – je nach Einschussmöglichkeiten – und es sich teilweise um einen Stacheldrahtzaun mit Alarmanlage handelt – wer also dahinter lebt, erst recht, wenn er selbst friedlich ist und sich für Frieden einsetzt und unter der Sippenhaft mit Terroristen zu leiden hat, wird auf diesem Wege leicht radikalisiert. Wenn ich auf der einen Seite der Mauer stehe und mir erklären lasse, wo der Beschuss herkam, kann ich die Israelis verstehen, wenn ich in Bethlehem sehe, dass Kinder kaum einen Spielplatz finden und man mehr oder weniger überall im Ort auf Beton schaut, kann ich die Palästinenser auch verstehen.

Die palästinensischen Selbstmordattentate und der Beschuss israelischer Gebiete aus den palästinensischen Gebieten waren furchtbar. Vor diesem Hintergrund ist die Sperranlage als Sicherheitsmaßnahme geplant worden. Schaut man sich allerdings ihren Verlauf an, umgibt sie meist palästinensisches Wohngebiet – aus dem geschossen wurde – schlägt dabei aber viel unbewohntes palästinensisches Gebiet de facto Israel zu. Zudem werden dadurch Palästinenser von ihren Feldern, Olivenhainen, ihren Arbeitsplätzen und ihren heiligen Stätten abgeschnitten oder haben nur sehr schwer Zugang zu ihnen. Die Mauer hat Schutz geboten und die Zahl der Attentate sehr stark reduziert, auf Dauer hat sie aber noch ganz andere Nebenwirkungen.

BQ: Also ein weiter Weg zur Zwei-Staaten-Lösung?

Ich sehe zwei Kernprobleme der Zwei-Staaten-Lösung, die derzeit trotzdem ohne wirkliche Alternative ist.

Im Westjordanland leben inzwischen etwa 500.000 israelische Siedler. Selbst bei bestem Willen zu einem großen Landtauschprojekt liegen diese Siedlungen zum Teil so weit im palästinensischen Gebiet, dass Zigtausende Siedler umgesiedelt werden müssten. Israel schaffte es kaum, 8.000 Siedler aus dem Gaza-Streifen auszusiedeln! Ich kann mir keine israelische Regierung vorstellen, die diese Auseinandersetzung wagen würde oder die danach wiedergewählt würde!

Gleichzeitig sind meines Erachtens die Palästinenser oft nicht an der Zwei-Staaten-Lösung interessiert, nicht nur diejenigen, die sowie den Staat Israel ganz beseitigen wollen, sondern auch gemäßigtere. Denn wenn die Palästinensischen Autonomiegebiete ein eigener Staat wären, wäre jede Rakete von dort nach Israel eine Kriegserklärung und Israel könnte völkerrechtlich legal gegen Palästina Krieg führen. Solange man die Terroristen und Islamisten nicht unter Kontrolle hat, will auch kein gemäßigter Politiker dieses Risiko eingehen.

BQ: Die sogenannten Ultraorthodoxen lehnen den jüdischen Staat ab.

Die Situation mit den ultraorthodoxen Juden wird immer unerträglicher. Ich habe mir auch diesmal wieder ‚live‘ angeschaut, wie sie den israelischen Staat ignorieren, in dem Falle, in dem sie nach einer Hochzeit die Verkehrspolizisten ignorierten, ihre Wagen blockierten und kurzerhand den Verkehr selbst regelten. Gerade hat der Oberste Gerichtshof Israels entschieden, dass die seit 60 Jahren vom Wehrdienst befreiten orthodoxen Juden doch Wehrdienst leisten müssen. Aber keiner traut sich, das umzusetzen.

BQ: Sie haben oft vor dem erstarkenden Fundamentalismus der Ultraorthodoxen in Israel gewarnt …

Die nationalreligiösen Parteien in Israel erhalten derzeit zusammengenommen etwa 15% der Wählerstimmen. Doch als kleine Koalitionspartner haben sie erstaunlichen Einfluss gewonnen. Per Gesetz müssen immer mehr Israelis so leben, wie es sich die Minderheit der orthodoxen Juden vorstellt, obwohl diese eben teilweise die Existenz eines Staates Israels ablehnen. Das alles ist um so erstaunlicher, als die meisten Juden in Israel noch liberaler als das Reformjudentum sind oder ihrer Religion nur nominell, das heißt aus abstammungsmäßigen Gründen angehören. Die seit Mitte der 1980er Jahre zunehmende Übernahme orthodox-jüdischer Gesetze in die staatliche Gesetzgebung Israels wird vor allem von ‚Agudat Israel‘ und der daraus entstandenen ‚Schass‘ vorangetrieben, in denen die Vorsteher der Talmudschulen (Jeshivot) und der chassidischen Gemeinden den Ton angeben.

Die Sabbatruhe wird immer strikter auch außerhalb der orthodoxen Viertel staatlich durchgesetzt. Die Fluglinie El-Al darf am Sabbat weder aus- noch einfliegen. Hotels und Restaurants müssen ‚Koscher-Wächter‘ bezahlen, die sicherstellen, das nirgends Nahrungsmittel angeboten werden, die den rabbinischen Vorschriften der ‚koscheren‘ Zubereitung widersprechen oder wie Schweinefleisch ganz verboten sind. Wer einwandern und israelischer Staatsbürger werden darf, wird nach streng orthodoxen Regeln entschieden. So werden oft Reformjuden und erst recht messianische Juden (Judenchristen) als nichtjüdisch abgelehnt. Reformjüdische Rabbiner dürfen in Israel keine religiösen Handlungen ausüben, obwohl die Reformjuden international den größten Flügel der jüdischen Religion darstellen.

Säkularisierte und nicht-orthodoxe Juden verlassen zunehmend Jerusalem und ziehen nach Tel Aviv, wenn sie Städter sind. Gerade einige der konfliktträchtigsten Gebiete haben einen hohen Anteil an orthodoxer Bevölkerung. Hier liegt ein Grundproblem der israelischen Gesellschaft. Der Anteil der Bevölkerung, die den Staat Israel – sowohl als jüdisches Projekt als auch als säkulare Demokratie – nicht mittragen, seien es Muslime, Arabischsprachige oder Ultraorthodoxe, steigt durch die höhere Geburtenrate fortlaufend. Sie alle sind aber zugleich auch Wähler.

BQ: Was raten sie den Konfliktparteien im Heiligen Land?

Man sollte mit vorschnellen Ratschlägen an Israel, aber auch an die Palästinenser vorsichtig sein. Zum einen, weil sie fast nie dem Umstand gerecht werden, dass es eine enorme Bandbreite an Positionen und Meinungen im Heiligen Land gibt, unter Juden wie unter Arabern und anderen.

Zum anderen, weil man sich nur schwer hineinversetzen kann, wenn dem eigenen Volk und Land wie Israel ständig von irgendwem gedroht wird, es auslöschen zu wollen. Man überlege einmal Polen, Frankreich und die Schweiz würden ständig vor der Weltpresse darüber nachsinnen, Deutschland von der Landkarte verschwinden zu lassen. Es ist etwa leicht, von Deutschland aus zu sagen, dass die Araber mit dem „Verschwinden“ Israels von der Landkarte wohl kaum Krieg meinen oder der Iran wohl eher mit den Säbeln rasseln würde, als wirklich Krieg gegen Israel führen zu wollen. Juden und Israelis haben historisch andere Erfahrungen, dass nämlich schrecklichen Worten schreckliche Taten folgen, und sie erleben etwa, wo der Iran jetzt schon überall seine Hand im Spiel hat. Der Antisemitismus ist weltweit nach wie vor erschütternd weit verbreitet und in der Israel umgehenden islamischen Welt, die arabische wie die persische, sowohl Standardmeinung auf der Straße wie auch offizielle Politik. Antisemitismus bleibt Rassismus, auch wenn er von Arabern ausgeht.

Es ist schon merkwürdig, wer sich da alles weit weg von diesem kleinen Land Israel vermeintlich bedroht fühlt und wer sich miteinander gegen Israel verbündet. Da werden zahlreiche Staaten in der UN zu Vorkämpfern der Menschrechte im Heiligen Land, die zu Hause sonst die Menschenrechte mit Füßen treten. Da setzten sich Kräfte für die Flüchtlinge dort ein, die die Millionen anderer Flüchtlinge oder gar die, die sie selbst vertreiben, ignorieren.

Aber auch in die friedlichen Palästinenser, die ständig für Gewalttaten anderer in Sippenhaft genommen werden, kann man sich nur schlecht hineinversetzen. Und der wahre Alltag der palästinensischen Familie und ihre Wünsche und Träume haben meist gar nichts mit dem zu tun, was in der Propaganda pro und contra veröffentlicht wird.

Wer hier Rat erteilen will, sollte sich erst einmal vor Ort mit beiden Seiten gut vertraut machen und dann Vorschläge machen, die für die Menschen vor Ort nützlich sind. Die meisten internationalen Ratschläge oder Resolutionen sind Mittel der Außen- oder gar Innenpolitik anderer Länder und wollen die internationale Meinung beeindrucken, nicht wirklich vor Ort Besserungen erzielen. Das gilt ebenso für die arabischen Nachbarländer, die sich noch nie wirklich für das Schicksal der Palästinenser interessiert haben, wie für die Europäische Union oder die UN. Die Haltung anderer Staaten und Institutionen spiegelt fast immer deren traditionellen Haltung gegenüber Juden, Israel, dem Islam, den Arabern, den Palästinensern wieder, als irgendeine aktuelle Einschätzung der Lage und dem Bemühen, einen gangbaren Weg der Verständigung zu finden, aber auch Gewalt im Heiligen Land aktiv einzudämmen.

BQ: Herzlichen Dank für das Interview!

 

Ein Kommentar

  1. Ingo D. sagt:

    Danke für das Interview!
    Für mich eine gelungene, ausgewogene, nüchterne, multipverspektivische Schilderung des Status Quo, sowie der Dilemmatas unter denen die Einzelnen zu leiden haben. Der Verzicht auf monokausale Argumentationen tut ebenso gut, wie die Zurückhaltung in den Ratschlägen.

    Es ist wie es ist und es kann immer auch ganz anders sein.

    Die Möglichkeiten und Chancen für einen Weg des Friedens könnten sich erhöhen, je mehr Menschen es gelingt, sich als einfühlsame Beobachter sowohl den leidvollen Zuständen der Betroffenen nachzuspüren, als auch den sich dadurch ergebenden Möglichkeiten für Verständnis und Verständigung.

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