Sprachlich und wesensmäßig trennt die Schrift „Amoris Laetitia“ zu Ehe und Familie Welten von Schreiben früherer Päpste zur Sexualethik, auch wenn sie die offizielle Lehre der Kirche kaum ändert. Die Schrift ist normaler, manchmal sogar banaler, allgemeinverständlich, an der Realität orientiert. Der Papst bedankt sich für viele Beiträge, die ihm geholfen haben, Familie zu verstehen (4) und lehnt eine für alle gültige Lösung, das heißt ein „Lehramtliches Eingreifen“ (3) ab. Das Dokument enthält sehr viel „Selbstkritik“ (36), reichlich ungewöhnlich für ein päpstliches Schreiben, zumindest für die vor 2013.

Durchgängig findet sich eine positive Würdigung von Sexualität und Erotik, ohne das, wie früher üblich, gleich wieder einzuschränken. Das hat durchaus Konsequenzen, etwa wenn der Papst selbstkritisch schreibt, dass die Berufung zur Liebe und gegenseitigen Hilfe „überlagert wurde durch eine fast ausschließliche Betonung der Aufgabe der Fortpflanzung“ (36).

Der Papst weigert sich, die eigentlichen Streitfragen der beiden letzten Bischofssynoden in Rom allgemeingültig zu entscheiden, obwohl ihn beide Bischofssynoden im Schlussdokument darum gebeten haben: „… möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (3). Dafür nennt er im Wesentlichen vier Gründe:

  1. Regionale und kulturelle Unterschiede: „Außerdem können in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen“ (3). Die vom Papst besonders in „Evangelii gaudium“ und der Abschlussrede der Familiensynode 2015 geforderte Dezentralisierung setzt sich fort, die schon bei der Eheannulierung radikal umgesetzt wurde, indem jetzt nicht mehr die Glaubenskongregation in Rom, sondern die Ortsbischöfe und die jeweiligen Seelsorger zuständig sind. Was sowieso schon der Fall ist, wird nun offiziell ermöglicht, dass sich nämlich die Praxis der katholischen Seelsorge in Deutschland von der etwa in Polen oder Afrika unterscheidet.
  2. Die Anwendung idealer Forderungen auf konkrete Situationen: Der Papst schreibt: „Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufrieden geben, gegenüber denen, die in ‚irregulären‘ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft.“ (305) Der Seelsorger muss sich jeden Fall einzeln genau anschauen und dabei zugleich die Barmherzigkeit berücksichtigen, „aus unserem Bewusstsein des Gewichtes der mildernden Umstände – psychologischer, historischer und sogar biologischer Art“ (308). Der Papst eröffnet deswegen die Möglichkeit, dass in Einzelfällen wiederverheirateten Geschiedenen der Zugang zur Kommunion eröffnet wird.
  3. Ein Plädoyer für die Gewissensentscheidung der Gläubigen: Die Aufwertung des Gewissens des Gläubigen gegenüber der kirchlichen Belehrung zieht sich wie ein roter Faden durch das Dokument (37, 42, 83, 222, 265, 298, 300-303), etwa im Falle der Kommunion wiederverheirateter Geschiedener oder bei der Empfängnisverhütung. Die letzte Entscheidung treffen die Gläubigen in ihrem Inneren. Zwar kann man das alles schon bei dem vom Papst mehrfach zitierten bedeutendsten mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274) nachlesen, aber insbesondere unter Papst Johannes Paul II. wurde das Gewissen eher als Vollzugsorgan der kirchlichen Lehre gesehen.
  4. Kein Lebenslänglich: Es geht um Barmherzigkeit und um „Integration“ der schuldig gewordenen Gläubigen, denn „niemand darf auf ewig verurteilt werden, denn das ist nicht die Logik des Evangeliums!“ (297). Denn, so der Papst, man kann nicht weiter behaupten, dass die in bestimmten „irregulären“ Situationen lebenden Gläubigen im Zustand der Todsünde und ohne die Gnade leben (301). Das Urteil „lebenslänglich“ ist gewissermaßen abgeschafft.

Für den konservativen Flügel der katholischen Kirche ist das Schreiben ein Albtraum, wie die Diskussionen im Web bereits jetzt zeigen. Denn an die Stelle unaufgebbarer gesetzlichen Normen, die jeden Einzelfall binden, treten zahlreiche Gründe, warum Priester und Gläubige im Einzelfall von der Norm abweichen können. Folgenschwer wird dabei die Veränderung sein, dass es ab jetzt für die Glaubenskongregation schwierig, wenn nicht unmöglich sein wird, Bischofskonferenzen oder Bischöfe in den angesprochenen Fragen abzumahnen. Denn grundsätzlich gibt die Kirche mit dem Schreiben einen Teil ihrer Kontrollinstanz in Fragen der Sexualität auf.

All das tut der Papst, ohne an einer Stelle die kirchliche Lehre an sich zu ändern, wenn man nicht in der Betonung von Kultur, Situation und Gewissen eine Verschiebung der gesamten Morallehre der Kirche auf einen Schlag sehen will. Deutlich wird das beim Thema Homosexualität. Es ist kein aufgeregtes Zentralthema der Sexualethik, sondern wird fast beiläufig behandelt, nicht mehr und nicht weniger als etwa das Zusammenleben unverheirateter Heterosexueller, das auch als nicht dem Ideal der Schöpfung entsprechend angesehen wird.

Ökumenisch öffnet das Dokument Türen in Richtung der orthodoxen oder der klassischen protestantischen Ethik – Karl Barth wäre erfreut gewesen. Eher liberal orientierte Protestanten werden tief enttäuscht sein, aber weite Teile der evangelikalen Welt werden das Schreiben als Annäherung an ihre Position verstehen: Biblisch vorgegebene ethische Grundsatzpositionen und eine auf das Leben und Gewissen bezogene Seelsorge werden nicht im Gegensatz zueinander gesehen. So habe ich etwa in „Führen in ethischer Verantwortung: Die drei Seiten jeder Entscheidung“ argumentiert, dass „Gebot“, „Weisheit“ und „Herz“ gleichermaßen biblisch begründete Quellen der Ethik sind. Der Papst benutzt eine etwas andere Begrifflichkeit, zielt aber auf dasselbe ab. Aus meinen Gesprächen mit ihm weiß ich, dass es genau darum geht: Die Breite des göttlichen Umgangs mit den Menschen in der Heiligen Schrift zu wahren, die Ermutigung und Ermahnung, Gebot und Weisheit, Lehre und persönliche Gewissensentscheidungen zugleich umfasst.

Auch sonst findet eine Annäherung an evangelikale und klassisch-protestantische Positionen statt. Ausgangspunkt sind durchgängig kleine, über die ganze Schrift verteilte Bibelarbeiten. Nicht nur die Barmherzigkeit wird betont, sondern auch, dass die Gnade Gottes immer zuerst kommt und der Mensch Gottes Ordnungen und „Bund“ ohne Gottes beständige Gnade nicht verwirklichen kann (36, 37, 35). Typisch Katholisches tritt stark zurück. Selbst das auch bei Papst Franziskus bisher übliche lange Schlusskapitel über Maria samt Gebet zu Maria ist einem kurzem „Gebet zur Heiligen Familie“ gewichen.

Gekürzt erschienen:

Leicht gekürzter Nachdruck davon in:

 

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