Der Kirchenvater Augustinus schreibt:

„Wer da behauptet, die Gnade hebe den freien Willen auf, begreift nicht, dass er den Wil­len nicht festigt, sondern haltlos treiben läßt.“[1]

Alister McGrath kommentiert dies treffend:

„Laut Augustinus muß man, wenn dem Reichtum und der Komple­xität der biblischen Aussagen zu diesem Thema Gerechtigkeit wi­derfahren soll, zugleich an der absoluten Souveränität Gottes und an der wirklich menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit festhal­ten. Die Problematik durch eine Bestreitung der Souveränität Gottes oder der menschlichen Freiheit zu vereinfachen liefe auf eine ernst­hafte In­fragestellung des christlichen Verständnisses der Art und Weise hin­aus, in der Gott den Menschen rechtfertigt.“[2]

Wilhelm-Albert Hauck hat gezeigt, dass die Prädestinationslehre für Johan­nes Calvin das Ethos, also das verantwortliche Handeln nach den Maßstäben Gottes, nicht bremst oder schmälert, sondern gerade begrün­det.[3] Er fasst Calvins Position zusammen:

„Die recht verstandene Prädestinationslehre, auf die sich die Erwäh­lungs- und Heilsge­wißheit der Gläubigen gründet, kann niemals ein echtes Ethos zerstören. Sie wirkt viel­mehr durch ihre Ausrichtung auf Gottes hei­ligen Willen, der mit der Erkenntnis auch die Kraft zur Er­füllung schenkt, ethosbegründend, ethoserhaltend und ethosvollen­dend. Dies beweist übri­gens auch ein Blick in die Geschichte des vom sitt­lichen Ernst und höchstem ethischen Aktivismus getragenen Calvi­nismus …“[4]

Auch H. Henry Meeter hat darauf hingewiesen, dass Calvin und die Calvinisten nicht nur die Prädestination stärker betonen als an­dere, sondern auch die menschliche Ver­antwortung.[5] So wurde ih­nen gleichermaßen der Vorwurf gemacht, die Prädestination zu sehr zu betonen und deswegen Fatalisten zu sein, wie die Verant­wortung zu sehr zu betonen und deswegen gesetzlich zu sein!

Bibeltexte, in denen Prädestination und Verantwortung gemeinsam er­wähnt wer­den[6]

Dass das Wissen darum, dass Gott alle Dinge lenkt, die Ver­antwortung des Menschen nicht schmä­lert, und umgekehrt die völ­lige Verantwortung des Menschen nicht die Sou­veränität Gottes in Frage stellt,[7] zeigen insbeson­dere solche Bibeltexte, in denen beide Seiten zugleich vorkom­men, ja, in denen aus der einen Seite ein Schluss auf die andere gezogen wird.

Wir danken Gott im Gebet für das Essen ebenso wie demjenigen, der das Essen gekocht hat. Jedes Mal wenn ein neuer Mensch ent­steht, ist er von Gott ganz neu geschaffen worden und dennoch zugleich durch zwei Menschen auf dem Weg einer biologischen Zeugung entstanden. Derartige biblische Beispiele dafür, wie Gottes souverä­nes Wirken und menschliches Handeln und Beteiligtsein zueinan­dergehören und sich nicht gegenseitig ausschließen, ließen sich be­liebig vermehren.

Texte zur Vorherbestimmung in Bezug auf das Heil, in denen Vorherbestimmung durch Gott und Ver­antwortung des Men­schen miteinan­der er­wähnt wer­den:

  • Phil 2,12–13: „Schaffet euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbrin­gen wirkt nach seinem Wohlgefal­len [oder: Ratschluss].“ (Christen schaffen, doch das nur, weil sie wissen, dass Gott alles tut.)
  • 1Petr 2,7–8: „Für euch nun, die ihr glaubt, ist er die Kostbar­keit. Für die Un­gläubigen aber heißt es: ‚Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden‘, und: ‚ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Är­gernisses‘. Da sie nicht ge­horsam sind, stoßen sie sich an dem Wort, wozu sie auch ge­setzt worden sind.“ (Sie sind persönlich verantwortlich, weil sie ungehor­sam sind, und dennoch dazu von Gott gesetzt worden.)
  • Joh 1,12–13: „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kin­der Got­tes zu heißen [oder: zu werden], denen, die an seinen Na­men glau­ben, die nicht von ih­rer Ab­stammung her, noch aus dem Wil­len des Flei­sches, noch aus dem Willen des Man­nes, sondern aus Gott geboren sind.“ (Man muss Gott persönlich auf­nehmen, und dennoch geschieht dies nicht aus menschlicher Kraft, sondern von Gott her.)
  • Joh 6,37: „Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kom­men, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaussto­ßen.“ (Man muss zu Jesus kommen, doch wer kommt, ist vom Vater gegeben.)
  • Joh 6,29: „Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er ge­sandt hat.“ (Antwort auf die Frage in 6,28, welche Werke Gottes ge­tan werden sollen.) (Sie glauben persönlich und doch ist dieser Glaube das Werk Gottes.)
  • 1Kor 15,10: (Paulus über sich:) „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und seine Gnade ist an mir nicht vergeblich gewe­sen.“ (Alles ist Gottes Gnade und dennoch kann Paulus zugleich darauf verweisen, dass er die Gnade nicht umsonst empfing. Ähn­lich:)
  • 2Kor 6,1: „Wir ermahnen euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht ver­geblich empfangt.“[8]
  • Gal 4,8–9: „Aber damals, als ihr Gott noch nicht kanntet, habt ihr denen gedient, die von Natur aus keine Götter sind. Aber jetzt habt ihr Gott erkannt, vielmehr seid ihr von Gott erkannt wor­den.

Wer verhärtete den ägyptischen Pharao?

  1. Gott verhärtet den Pharao oder die Ägypter: 2Mose 4,21; 7,3; 9,12; 10,1+20+27; 11,10; 14,4+8 und 2Mose 14,17 (Volk)
  2. Ohne Angabe des Verursachers: 2Mose 7,13+14+22; 8,15+28; 9,7+35
  3. Der Pharao verhärtet sein Herz: 2Mose 8,11; 9,34 (vgl. 1Sam 6,6; Spr 28,14)
    „Die Verstockung ist so beides, göttliche That und zugleich ei­gene That des Subjekts, wie denn bei­derlei Ausdrücke wechseln … In erster Beziehung ist die Verstockung Wirkung des göttlichen Zorns.“ (Oehler)

Das Wort „verstocken“ kommt im Neuen Testament als Ver­stockung durch Gott in Mt 13,15; Joh 12,40; Apg 28,27; Röm 9,18; 11,7; 2Kor 3,14 vor, als selbstverschuldete Verstockung des Menschen oder als Warnung davor in Mk 3,5; Apg 19,9; Röm 2,5; Hebr 3,8+13+15; 4,7.

[Zitat: Gustav Friedrich Oehler. Theologie des Alten Testaments. J. F. Stein­kopf: Stutt­gart, 18913. S. 258. Vgl. auch Karl Ludwig Schmidt. „Die Verstockung des Menschen durch Gott“. Theologische Zeitschrift 1 (1945) 1: 1–17. Zum letzten Satz: Es wurden hier alle Texte untersucht, in denen Luther mit „verstocken“ über­setzt (vgl. ebd. S. 5). Im Griechischen und He­bräischen stehen dafür unter­schiedliche Begriffe (vgl. ebd. S. 9–15).]

Texte, in denen die Verantwortung des Men­schen all­gemein und die Prädestina­tion der Er­eignisse durch Gott zu­sammen erwähnt werden:

  • Lk 22,21–22: (Über Judas:) „Doch siehe, die Hand dessen, der mich überlie­fert, ist mit mir auf dem Tisch. Und der Sohn des Menschen geht zwar dahin, wie es beschlossen ist. Wehe aber jenem Men­schen, durch den er überlie­fert wird!“ (Judas’ Schick­sal ist Erfüllung von Prophetie und beschlossen und dennoch ist er voll verantwortlich.) Ähnlich, aber allgemeiner formuliert, lautet:
  • Mt 18,7: „Es müssen ja Verführungen kommen; doch weh dem Menschen, der zum Abfall verführt!“
  • Jes 50,11: „Lauft hinein in die Glut eures Feuers und in die Brand­pfeile, die ihr ange­steckt habt! Von meiner Hand ge­schieht euch das.“ (Sie laufen selbstverschuldet in die Glut und dennoch kommt dies von Gott.)
  • 5Mose 29,28: „Das Verborgene steht bei dem Herrn, unserm Gott; aber das Offenbare gilt uns und unsern Kindern für ewig, damit wir alle Worte dieses Geset­zes tun.“ (Gottes verborgenes Handeln kann nie als Entschuldigung für das Nichtbefolgen seiner geoffenbarten Gebote benutzt werden.)
  • Jak 4,13–17: Wir sollen uns nicht mit unseren Planungen rühmen, sondern sagen „So der Herr will und wir leben, werden wir dieses oder jenes tun.“ (Jak 4,15), dann also unsere Arbeit tun. (Alles soll unter dem Vorbehalt stehen, dass Gott letztlich darüber be­stimmt, und dennoch sollen Geschäfte abgeschlossen werden.)
  • Neh 2,20: „Der Gott des Himmels lässt es uns gelingen. Und wir wol­len uns als seine Knechte aufma­chen und bauen.“ (Das Wissen um Gottes Gelingenlassen führt nicht zum faulen Abwarten, son­dern zum aktiven Mitarbeiten.) 1Petr 3,17: „Denn es ist besser, wenn der Wille Got­tes es will, für Gutestun zu leiden als für Böses­tun.“ (Das Leiden geschieht nach Gottes Willen und dennoch sind wir dafür verantwortlich, ob wir wegen böser Dinge oder wegen guter Dinge leiden.)
  • Spr 21,31: „Das Pferd wird für den Tag der Schlacht gerü­stet, aber die Rettung kommt vom Herrn.“

Menschen bitten darum, dass Gott sie zur Umkehr bringt:

  • Jer 31,18–19: „Lass mich umkeh­ren, damit ich umkehre, denn du, Herr, bist mein Gott. Denn nach meiner Umkehr empfinde ich Reue, und nachdem ich zur Erkenntnis gelangt bin, schlage ich mir auf die Seite [= ein Zeichen der Reue].“
  • Klgl 5,21: „Bringe uns zu dir zurück, Herr, damit wir umkehren!“

Das Wissen um die Prädestination zum Heil führt zur Evangelisa­tion und zum Einsatz für die Erwählten:[9]

  • 2Tim 2,10: „Deswegen erdulde ich alles um der Aus­erwählten willen, da­mit auch sie das Heil, das in Christus Jesus ist, mit ewi­ger Herrlich­keit erlangen.“ (Pau­lus muss also noch etwas für die Er­wählten tun!; ähnlich:)
  • Apg 18,9–10: Gott hat „ein großes Volk in die­ser Stadt“, was ge­sagt wird, als die meisten noch ungläubig sind. Gerade weil Gott ein Volk von Aus­erwählten hat, soll Paulus reden und nicht schwei­gen (18,9).
  • Phil 2,12–13: „Schaffet euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbrin­gen wirkt nach seinem Wohlgefal­len [oder: Ratschluss].“ (Christen ‚schaffen‘, doch das nur, weil sie wissen, dass Gott alles tut. Das Wissen um die Prädestination macht sie nicht passiv, sondern aktiv, nicht träge, sondern eifrig.)

Vgl. auch Neh 2,20: „Der Gott des Himmels lässt es uns gelingen. Und wir wollen uns als seine Knechte aufmachen und bauen.“ (Kommentar siehe im vorletzten Kasten).

 

Fussnoten:

[1] Aurelius Augustinus. Schriften gegen die Semipelagianer. Reihe: Sankt Augusti­nus, der Lehrer der Gnade: Deutsche Ge­samtausgabe sei­ner anti­pelagianischen Schriften Bd. 7. Augu­stinus-Ver­lag: Würz­burg, 19872. S. 31. Vgl. auch Aurelius Augustin. Vom Gottesstaat. Bd. 1. dtv: München, 19852. S. 240–244+361–363.

[2] Alister E. McGrath. Der Weg der christlichen Theologie. C. H. Beck: Mün­chen, 1997. S. 436.

[3] Wilhelm-Albert Hauck. Die Erwählten: Prädestination und Heilsge­wißheit nach Calvin. C. Bertelsmann: Gütersloh, 1950. S. 94–106. Der Calvinist R. B. Kuiper. God Centred Evangelism. Banner of Truth Trust: Edinburgh, 1978 (Nachdruck von 1966), bes. S. 36ff geht ebenso davon aus, dass die Erwählungslehre zur Evangelisation führt.

[4] Wilhelm-Albert Hauck. Die Erwählten. a. a. O. S. 106. Vgl. auch Heinz Ot­ten. Calvins theologische Anschauung von der Prädestina­tion. Forschun­gen zur Ge­schichte und Lehre des Protestan­tismus 9/1. Chr. Kaiser: Mün­chen, 1938.

[5] H. Henry Meeter. The Basic Ideas of Calvinism. hg. von Paul A. Marshall. Baker Book House: Grand Rapids (MI), 19906 (19391). S. 41.

[6] Vgl. dazu bes. James I. Packer. Prädesti­nation und Ver­antwortung. Neue Studienreihe 5. Brock­haus: Wuppertal, 1964 und zum Alten Testament D. A. Carson. Divine Sovereignty and Human Responsibility. John Knox: Atlanta (GE), 1981; Marshal, Morgan & Scott: London, 1981. S. 9–40.

[7] Charles Haddon Spurgeon hat in seiner Autobiographie sehr stark betont, dass man Prädestination und Verantwortung gleichermaßen betonen muss: „Plädoyer für den Calvinismus“ (Überschrift des 12. Kapitels), S. 95–103 in: Charles Had­don Spurgeon. Alles zur Ehre Gottes: Autobiographie. Oncken Verlag, Wup­pertal, 1984, hier S. 102–103; vgl. die ausgezeichnete Klarstellung zu Spurgeon in Ian Murray. Spurgeon – wie ihn keiner kennt. Reformatorischer Verlag H. C. Beese: Hamburg, 1992.

[8] Zu den letzten drei Texten vgl. ebd.Augustinus. Semipelagianer S. 265+95–99.

[9] Vgl. dazu bes. James I. Packer. Prädesti­nation und Ver­antwortung. a. a. O. (aus der reformierten Sicht der doppelten Prädestination) und Siegfried Kettling. Typisch evangelisch: Grundbegriffe des Glau­bens. TVG. Brun­nen: Gießen, 19932. S. 83–147 (aus der neulutherischen Sicht der einfachen Prädestination).

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