24% der Bevölkerung, also über eine viertel Milliarde Einwohner gehören zu den unterprivilegierten, in der Verfassung eigens erfassten und eigentlich in Artikel 17 seit 1947 abgeschafften ‚Scheduled Castes‘ (SC), die sich in die Dalits (früher bei uns ‚Kastenlose‘ oder ‚Unberührbare‘ genannt) und den wesentlich kleineren Teil der ‚Scheduled Tribes‘ (ST), der Stammesvölker, unterteilen. Millionen von ihnen machen den Hinduismus und sein Kastendenken für ihre Lage verantwortlich und sind zum Islam, Buddhismus und Christentum übergetreten – die Hauptzielscheibe der Religionsverfolgung und das Ziel der Hindutva-Fundamentalisten ist, eine weitere Abwanderung zu verhindern und so viele wie möglich zwangsweise zurückzubekehren.

Wie man in anderen Ländern zwischen friedlichem Mehrheitsislam und die politische Herrschaft anstrebendem Islamismus differenzieren muss, muss man zwischen dem friedlichen Mehrheitshinduismus und dem, was man in Indien Hindutva nennt – dem fundamentalistischen Hinduismus, unterscheiden, wie er in der Partei ‚Bharatiya Janata Party‘ (BJP) verkörpert wird, die der politische Arm des größten und militanten Freiwilligenkorps der Welt ‚Rashtriya Swayamsevak Sangh‘ (RSS, ‚Reichsfreiwilligenkorps‘) und zahlreicher damit verbundener Organisationen ist.[1]

Die fundamentalistischen Bewegungen in Islam, Buddhismus (vor allem in Sri Lanka) und im Hinduismus stammen alle von Vordenkern aus den 20ern und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ab und sind in der Schlussphase des Kolonialismus entstanden.[2] Sie alle vertreten eine neue Form ihrer jeweiligen Religion, die es vorher so nicht gegeben hat. Die Partei ist geboren aus der Idee der 1920/30er Jahre, dass Indien allein dem Gott Rama gehöre. Das ist natürlich nicht einfach eine radikale Form des klassischen Hinduismus, der Begriff „Hinduismus“ wurde ja erst von den Engländern zum Zwecke von Volkszählungen geschaffen, um die zahllosen indischen Religionen zusammenzufassen. Das ist eine ganz neue Theorie, denn dass das Land nur einem Gott gehöre, ist eine Entlehnung aus monotheistischen Religionen.

In Indien hat es lange gedauert, bis die Ideologie der Hindutva in der großen Politik ankam,[3] in einer Demokratie natürlich in Form einer Partei, der Bharatiya Janata Party (BJP). Noch in meinem Studium beschäftigten wir uns mit der Hindutva als theologischer Größe, nicht als politischer, auch wenn mein Lehrer, der Religionswissenschaftler Hans-Joachim Klimkeit schon 1981 Schlimmeres kommen sah.[4]

Überall, wo diese Partei als Koalitionspartei mitregiert oder gar die Regierung stellt, werden Gesetze gegen andere Religionen verabschiedet oder kommt es, wie im Bundesstaat Orissa, gleich zu einem Gemetzel an Anhängern anderer Religionen.

„Eine Trennung von Staat und Religion ist für Hindu-Fundamentalisten unvorstellbar. Ich darf an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass der Hinduismus von seinem Selbstverständnis eine Religion ist, die alle Bereiche des menschlichen Daseins vom Moment der Zeugung bis zum Tod und darüber hinaus durchdringt. Die durch die indische Verfassung garantierte Gleichbehandlung aller Religionen sehen insbesondere die politisch orientierten Fundamentalisten als Verrat am Hinduismus. Daher ist es eines ihrer wesentlichen Ziele, den Hinduismus zur vorherrschenden und allein bestimmenden Religion in Indien zu machen.“[5]

In den 1990er Jahren erlebte der Hindu-Nationalismus einen großen Aufschwung, was sich zum Teil mit den Problemen und Fehlern der seit Jahrzehnten unangefochtenen Kongresspartei erklärt, aber auch mit der radikalen wirtschaftlichen Modernisierung des Landes. Der Hindutva-Extremismus wandte sich traditionell vor allem gegen Muslime, massiv dann ab den 1990er Jahren. Die BJP und die ihre verbundenen Organisationen waren – um nur die herausragendsten Beispiele zu nennen – 1992/93 die Aufwiegler bei den schweren Unruhen in Mumbai und ganz Indien nach der Zerstörung der Babri-Moschee und Verursacher der Gewaltwellen zwischen Hindus und Muslimen im westindischen Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002.

Die den Anspruch, dass Indien nur den Hindus gehöre, vertretende Partei BJP wuchs in den neunziger Jahren zur stärksten politischen Kraft Indiens. 1998 ging die BJP mit 23,3% der Stimmen als zweitstärkste Partei aus den Wahlen hervor. Zwischen 1998 und 2004 bildete sie die Regierung in Indien mit dem Premierminister Atal Behari Vajpayee, erlitt dann aber Wahlniederlagen gegen die säkulare Kongresspartei, zuletzt 2009. Man sieht als einen Grund für die Niederlage der BJP an, dass es in den von ihr regierten Bundesstaaten, zuletzt in Orissa, zu schweren Christenverfolgungen mit vielen Toten und Zigtausenden Vertriebenen kam.

Ironischerweise griff der Neo-Hinduismus als Grundlage des gewalttätigen hinduistischen Fundamentalismus der Gegenwart mit der Berufung auf den ‚Hinduismus‘ ein von der britischen Kolonialmacht eingeführtes Etikett auf: Erst im 19. Jahrhundert wurden von den Briten verschiedenste religiöse Traditionen in Indien unter dem Sammelbegriff ‚Hinduismus‘ zusammengeführt. Zuvor gab es eigentlich kein Bewusstsein dafür, dass die vielfältigen religiösen Richtungen und Praktiken in Indien eine gemeinsame Religion bilden. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die klassische, brahmanische Traditione des Hinduismus neu formuliert und betont (Re-Hinduisierung), zum anderen wurde der Hinduismus als Gemeinsamkeit stiftende Tradition politisch genutzt (Neo-Hinduismus), wobei man sich – mit zum Teil ganz neuen Interpretationen – auf die alten religiösen Schriften des Veda oder der großen indischen Epen (Mahabharata, Ramayana) stützte. Ein Beispiel dafür ist der Rama-Kult, die Verehrung Ramas als königlicher Inkarnation des Gottes Vishnu, den es in dieser Form früher nicht gab. Daraus entstand die moderne politische Idee des Ramarajya, der Herrschaft Ramas über ganz Indien. Der Neo-Hinduismus entwickelte eine neue Geschichtsauffassung, in der für Islam und Christentum kein Platz war. Der Hinduismus erscheint nun als ursprüngliche Religion der Inder, der von späteren Entwicklungen gereinigt werden muss. Die indische Geschichte wird nun periodisiert. Einer ersten Periode, dem Goldenen Zeitalter der Hindu-Herrscher folgt die muslimische und dann die britische Invasion und Verunreinigung. Jetzt muss Indien wieder ganz für den Hinduismus zurückerobert werden. Das gemeinschaftsbildende Element des hinduistischen Fundamentalismus ist der Glaube an die Einzigartigkeit der indischen Erde. Indien, Pakistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und große Teile Birmas, werden als ‚heiliges Land‘ mit zentraler Bedeutung für die Weltgeschichte und als Wohnort der Götter betrachtet, eine Folge der gemeinsamen Kontrolle dieses Gebietes durch den britischen Kolonialherren. Obwohl die Politisierung des Hinduismus bereits im 19. Jahrhundert begann, konnte sein Einfluss zunächst durch die säkulare Staatsgründungsidee Indiens und die lange Herrschaft der Kongresspartei zurückgedrängt werden. Seine schon lange gewaltsame Seite trat in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit, als Hindus 1992 die Babri-Moschee von Ayodhya zerstörten, um an gleicher Stelle einen Tempel des Hindu-Gottes Rama zu errichten.

Ich habe mehrfach die These vertreten, dass die Hauptursache für zunehmende Christenverfolgung aber auch Einschränkung von Religionsfreiheit überhaupt einerseits fundamentalistische Bewegungen sind, andererseits ein zunehmender religiöser Nationalismus, der Nationalismus mit der Zugehörigkeit zur Mehrheitsreligion gleichsetzt.[6] In Indien findet sich eine untrennbare Mischung beider Bewegungen als Hauptproblem für die abnehmende Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten.

Die wichtigsten Organisationen des politischen Hinduismus

(1) Die RSS (Rashtria Svayamsevak Sangh = Nationaler Freiwilligenverband) ist die Mutterorganisation der Sangh Parivar, der ‚Nationalen Gemeinschaft aller Hindus‘. 1925 unter dem charismatischen Führer K. B. Hedgewar gegründet, entwickelte sie sich schnell zur führenden Organisation des politisch erneuerten Hindutums. Die paramilitärisch und hierarchisch straff strukturierte Organisation hat etwa 5 Mio. Anhängern und unterhält über 27.000 Trainingslager (Shakas) für Kämpfer für ein ‚Hindustan‘.

(2) Ein Ableger des RSS ist der 1964 in Bombay gegründete Weltrat der Hindus (VHP = Vishwa Hindu Parishad). Er ist das eigentliche kultur- und religionspolitische Sprachrohr des fundamentalistischen Spektrums weltweit. Die VHP unterhält in ganz Indien und weltweit soziale, karikative, religiöse und publizistische Einrichtungen. Ziel ist vor allem, die Konvertierung von Hindus zum Islam, Buddhismus oder Christentum zu verhindern.

(3) Die aus der RSS hervorgegangen Partei ist die Allindische Volkspartei (BJP = Bharatya Janata Partei). Sie versteht sich als Hüterin des hinduistischen Erbes und kämpft gegen die angebliche Bevorzugung von Muslimen und gegen den Säkularismus der derzeit wieder regierenden Kongresspartei. Die BJP stellt in einigen Bundesstaaten die Regierung und einige Jahre den Ministerpräsidenten.

(4) Radikaler, aber nur regional vertreten als die BJP ist die Shiv Sena, die „Armee Shivas” unter straffer Führung ihres Gründers Bal Thackeray stellt seit 1968 mit Unterbrechungen den Bürgermeister der Riesenstadt Mumbais (früher Bombay). „Die Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch oftmals deren Drahtzieher und Organisatoren, wie z.B. 1992 in Mumbai, als fast 1000 Menschen, vorwiegend Muslime, bei blutigen Ausschreitungen ihr Leben verloren.”[7]

An vielen Orten unternimmt die örtliche Polizei nichts, wenn Hinduextremisten gegen Muslime, Christen oder andere vorgehen. Eher werden noch einige der Opfer vorübergehend festgenommen. Zwar sind spätere Eingaben bei höheren Autoritäten oder bei Gerichten meist erfolgreich, aber bis dahin sind die Opfer Freiwild und weder die Täter noch die inaktiven Polizisten werden belangt. Oft wird auch ein Kompromiss erzwungen, etwa eine Bestechungszahlung durch die Opfer oder das Angebot, dass die Opfer nicht mehr behelligt werden, aber den Ort verlassen und ihre Häuser aufgeben müssen.

Im westindischen Bundesstaat Gujarat wurde im März 2003 von der Polizei versucht, alle Bekehrungen zum Christentum und alle christlichen Organisationen zu erfassen und deren subversiven Tätigkeiten für das Ausland zu belegen, um ein Gesetz gegen Religionswechsel von Hindus zu erlassen. Der Oberste Gerichtshof des Bundeslandes untersagte diese Umfragen als gegen die Verfassung gerichtet, sie wurden aber dennoch fortgesetzt und das Gesetz schließlich verabschiedet.

Anfang 2012 wurde in Mumbai eine Synagoge zerstört und der Rabbi und seine Frau getötet. Die Regierung stellte sich nicht etwa auf die Seite der Juden, sondern verwies am 3.2.2012 den 2010 eingereisten Rabbiner einer der ältesten Synagogen im Land in Ernakulam im Bundesstaat Kerala – erbaut im Jahr 1568 – innerhalb von zwei Monaten des Landes, angeblich aus Sicherheitsgründen.

Es sei noch angemerkt, dass es kein Zufall ist, dass die religiöse Gewalt in Bundesstaaten mit Antibekehrungsgesetzen am höchsten ist, ohne hier monokausale Beziehungen herstellen zu wollen. Aber weltweit lässt sich zeigen, dass Einschränkung von Religionsfreiheit eher Gewalt hervorbringt, als Religionsfreiheit und freie Religionsausübung eine friedliche Gesellschaft begünstigt, während deren Beschränkung, um Unruhe zu verneiden, diese Unruhe oft gerade herbeiredet.[8]


[1] Jakob Rösel. „Ideologie, Organisation und politische Praxis des Hindunationalismus: Lehre, Rituale und Wirkung des RSS und der BJP“. Internationales Asienforum 25 (1994): S. 285–313.

[2] Siehe ausführlicher Thomas Schirrmacher. Fundamentalismus: Wenn Religion zur Gewalt wird. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2010.

[3] Michael Schied. Nationalismus und Fundamentalismus in Indien. Der Ayodhya-Konflikt. Saarbrücken: Müller, 2008; Clemens Six. Hindu-Nationalismus und Globalisierung. Frankfurt: Brandes, 2001; Andreas Schworck. Ursachen und Konturen eines Hindu-Fundamentalismus in Indien aus modernisierungstheoretischer Sicht. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1997; Ernst Pulsfort. Indien am Scheideweg zwischen Säkularismus und Fundamentalismus. Würzburg: Echter, 1991.

[4] Hans-Joachim Klimkeit. Der Politische Hinduismus. Wiesbaden: Harrasowitz, 1981.

[5] Katharina Ceming. „Hinduismus: Auf dem Weg vom Universalismus zum Fundamentalismus?“. polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 12 (2004), S. 99–114 (= 1-15), auch unter http://them.polylog.org/5/ack-de.htm (15.3.2012). S. 7.

[6] Zuletzt in „Aktuelle Entwicklungen der Christenverfolgung weltweit“. S. 59–82 in Kuno Kallnbach, Helmut Matthies (Hg.). Bedrängt, verfolgt, getötet. Gießen: Brunnen, 2012.

[7] Katharina Ceming. „Hinduismus: Auf dem Weg vom Universalismus zum Fundamentalismus?“. polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 12 (2004), S. 99–114 (= 1-15), auch unter them.polylog.org/5/ack-de.htm (15.3.2012). S. 13.

[8] Siehe Brian J. Grim, Roger Finke. The Price of Freedom Denied: Religious Persecution and Conflict in the Twenty-First Century. Cambridge: Cambridge University Press, 2010 und meinen Kommentar dazu unter http://www.thomasschirrmacher.info/archives/1792 (15.3.2012).

 

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