Ein Bericht von Thomas Schirrmacher, Stellvertretender Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz
Ich habe die Unterzeichnung der Erklärung „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ durch Vatikan, den Ökumenischen Rat der Kirchen und die Weltweite Evangelische Allianz im Jahr 2011 oft als kirchenhistorisches Ereignis bezeichnet. Nun durfte ich ein weiteres, diesem mindestens ebenbürtiges kirchenhistorisches Ereignis miterleben. Ich bin weder Katholik noch Lutheraner. Doch was hier geschehen ist, ebnet den Weg für alle protestantischen Kirchen und Konfessionen. Und die Anwesenheit orthodoxer Vertreter, ja sogar der altorientalischen Kirchen – so etwa der Syrisch-Orthodoxe Patriarch Afrem II. – zeigt, dass die Konsequenzen selbst für unbeteiligte Dritte spürbar sind.
Das Reformationsjahr wurde in Lund nicht nur vom Lutherischen Weltbund eröffnet, sondern auch von der katholischen Kirche, vertreten durch den Papst. Dies vor 450 geladenen Gästen im – leider Gottes hermetisch von der schwedischen Polizei weiträumig abgeschotteten – Lunder Dom, darunter König Carl XVI. Gustav und Königin Silvia, der Premierminister Schwedens und weitere Minister, nationale und internationale Vertreter der katholischen Kirche und der lutherischen Kirchen, dann aber auch die führenden Repräsentanten der sogenannten Secretaries for Christian World Communions, das heißt der Leiter fast aller christlichen internationalen Konfessionen und Dachverbände der Welt (von den orthodoxen Kirchen bis zur Heilsarmee), darunter auch die beiden größten, der Ökumenische Rat der Kirchen und die Weltweite Evangelische Allianz, jeweils vertreten durch ihre Generalsekretäre und jeweils einen zweiten Vertreter.
In der Vogelperspektive reiht sich die Veranstaltung meines Erachtens in das friedlicher Werden der Weltchristenheit ein. Katholiken und Lutheraner schließen gewissermaßen einen Friedensvertrag. Sie bedauern, Armeen, weltliche Macht und Desinformation gegeneinander eingesetzt zu haben, und wollen ihre Unterschiede künftig in friedlichen Gesprächen aufarbeiten, nicht mit ungeistlichen Waffen aller Art. Sie wollen sich nicht länger auf Geld, Kultur, Macht und Staat verlassen, sondern sehen die Zukunft der Kirchen in der Kraft des Evangeliums, die jeder Christ zeugnishaft und freundlich weitergibt. Das kann man als evangelikaler Christ meines Erachtens nur von Herzen begrüßen.
Der Ausverkauf der Reformation, den allerlei Unkenrufe angekündigt oder Verschwörungstheoretiker vorab gewusst haben wollen, ist auch nicht andeutungsweise eingetreten. In der Liturgie des Gottesdienstes dankten alle
„für die Verkündigung des Evangeliums während der Reformation, das seitdem unzählige Menschen dazu befähigt hat, ein Leben im Glauben an Jesus Christus zu führen.“
Davon, dass Bischof Dr. Munib A. Younan aus Jerusalem als Präsident des Lutherischen Weltbundes und sein Generalsekretär Martin Junge aus Chile für ein medienwirksames Ereignis die lutherische Identität zu verwässern bereit gewesen wären, kann nicht die Rede sein.
Zwar haben sich die Lutheraner davon distanziert, dass die Reformation allzu schnell unter die Räder der Politik geriet und Religionskriege und Verfolgung anderer nicht verhindern konnte, zwar haben sich beide Seiten davon distanziert, Lügen übereinander verbreitet zu haben und von Hass, der bis zu Krieg reichen konnte, geprägt gewesen zu sein.
Aber die Kernanliegen Luthers, das sola gratia ebenso wie sein Ruf zur Reform, wurden von allen als wegweisend gewürdigt. Der Papst sagte:
„Die geistliche Erfahrung Martin Luthers hinterfragt uns und erinnert uns daran, dass wir ohne Gott nichts vollbringen können. ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?‘ – das ist die Frage, die Luther ständig umtrieb. Tatsächlich ist die Frage nach der rechten Gottesbeziehung die entscheidende Frage des Lebens. Bekanntlich begegnete Luther diesem barmherzigen Gott in der Frohen Botschaft vom menschgewordenen, gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus. Mit dem Grundsatz ‚Allein aus Gnade‘ werden wir daran erinnert, dass Gott immer die Initiative ergreift und jeder menschlichen Antwort zuvorkommt, und zugleich, dass er versucht, diese Antwort auszulösen. Daher bringt die Rechtfertigungslehre das Wesen des menschlichen Daseins vor Gott zum Ausdruck.“
Was will man mehr?! Es ist Gott, der immer zuerst die Initiative ergreift, ja, der selbst unsere Antwort auslöst. Und Vergebung und Barmherzigkeit erlangen wir allein in Jesus Christus. Ich wünschte, dass wäre heute Gemeingut aller Protestanten!
Da auch für uns als Weltweite Evangelische Allianz viel auf dem Spiel stand, habe ich mich nicht nur mit den Verantwortlichen des Lutherischen Weltbundes sehr ausführlich unterhalten, sondern den Papst in den letzten Wochen viermal getroffen und traf auch in Lund zweimal kurz mit ihm zusammen. Deswegen kann ich nur sagen, das mir jedes Verständnis für die fehlt, die meinen, der Papst meine nicht, was er sage, und habe – gar noch als Jesuit – eine ganz andere, heimliche Agenda. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass die Heilige Schrift, das Evangelium und der Heilige Geist, der beides gebraucht, die notwendige Durchschlagskraft haben, die Kirchen langfristig zu einer größeren Einheit zurückzuführen und jeden Christen zu befähigen, in einer sterbenden Welt das Heil und die Hoffnung in Christus persönlich zu bezeugen.
Doch der Papst hat dabei nur die Konsequenz daraus gezogen, dass sich 1999 Vatikan und Lutherischer Weltbund nach Jahren mühsamer Kleinarbeit in den Absätzen 15-17 der Rechtfertigungserklärung auf eine Zusammenfassung der neutestamentliche Lehre von der Rechtfertigung geeinigt haben, die den Lauf der Zeit überstanden hat und nun 17 Jahre später zu praktischen Konsequenzen führen kann, nicht übereilt, sondern bewährt, nicht auf dünnem Eis, sondern als tragfähige Gemeinsamkeit. Ich habe bereits kurz nach seiner Wahl erstmals aus dem Mund von Papst Franziskus gehört, dass die Absätze 15-17 Zentrum unserer Gemeinsamkeiten sein sollten und dass das doch Konsequenzen haben muss. Wie immer hat der Papst seine Ankündigungen, wie abenteuerlich sie auch anfänglich klangen, wahr gemacht.
Zugleich ist aber die prinzipielle Anerkennung des Grundanliegens Luthers kein Anlass für protestantischen Triumphalismus. Dazu hat die Reformation viel zu schnell zu weiteren Spaltungen, zur Verpolitisierung, zum kirchlichen Nationalismus und zu Stolz und Hass geführt. Die gemeinsame Erklärung, die während des Gottesdienstes unterzeichnet wurde, formuliert das so:
„Während wir eine tiefe Dankbarkeit empfinden für die geistlichen und theologischen Gaben, die wir durch die Reformation empfangen haben, bekennen und beklagen wir vor Christus zugleich, dass Lutheraner und Katholiken die sichtbare Einheit der Kirche verwundet haben. Theologische Unterschiede wurden von Vorurteilen und Konflikten begleitet und Religion wurde für politische Ziele instrumentalisiert.“
Im Kern war das Ganze nun einmal eine Reformationsfeier nicht nur in Anwesenheit des Papstes, sondern gar auf seine Einladung hin. Es ist ein ganz großer Schritt des Papstes auf die Protestanten zu, äußerlich wie inhaltlich. Natürlich nicht nur des Papstes allein, denn dazu waren viel zu viele führende katholische Theologen, Bischöfe und Kardinäle an den langjährigen Vorbereitungen beteiligt. Der Papst bricht gerade rechtzeitig eine 500jährige Front auf, und ersetzt sie durch ernsthafte Gespräche, Selbstkritik auf beiden Seiten und den Wunsch, dass die notwenigen Auseinandersetzung von Liebe geprägt werden, nicht von dem Wunsch, über den anderen zu ‚siegen‘.
Der bewegende Appell des Papstes in der Arena von Malmö, die ökumenische Zusammenarbeit zu intensivieren, meinte zudem kein vorschnelles Überspielen verbleibender tiefgreifender theologischer Unterschiede, die vielmehr gründlich aufgearbeitet werden müssen, auch wenn die Gemeinsamkeiten sicher überwiegen. Sondern er forderte die Weltchristenheit auf, einer leidenden Welt gemeinsam Solidarität zu beweisen, und den Armen, Kranken, Unterdrückten, Verfolgten oder Geflüchteten bewusst gemeinsam zu helfen. Die Unterzeichnung eines weitreichenden Kooperationsabkommens von Caritas International und dem Hilfsdienst des Lutherischen Weltbundes während der Veranstaltung unterstreicht, was damit gemeint ist. Wer denkt da nicht auch in Deutschland an die große Gemeinsamkeit aller Kirchen in der Flüchtlingshilfe, die deutlich macht, dass die theologischen Unterschiede nicht zu Lasten der Notleidenden diskutiert werden sollten, sondern als gemeinsames Ringen um die Wahrheit.
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