Der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann kommt in seinem neuen Buch zum Fundamentalismus in Geschichte und Gegenwart (Fundamentalismus: Radikale Strömungen in den Weltreligionen. Freiburg: Herder, 2013) in Vielem meiner in meinem Buch ‚Fundamentalismus: Wenn Religion zur Gewalt wird‘ vertretenen Sicht sehr nahe.

Für ihn wie für mich ist Fundamentalismus nicht einfach das Vertreten einer Wahrheit oder das Festmachen dieser Wahrheit an einer Heiligen Schrift. Erst der Wille, die eigene Wahrheit anderen politisch aufzwingen zu wollen, macht den Fundamentalismus aus. Wippermann schreibt:

„Fundamentalismus ist eine Ideologie, durch die Religion politisiert, die Politik dagegen sakralisiert und zur ‚politischen Religion‘ gemacht wird“ (S. 7).

Er erläutert dazu:

„Religion kann die Menschen wie die Drogen Kokain und Crack aufputschen und aggressiv machen. Doch zuvor muss die Religion zur Ideologie gemacht werden, mit der die Angehörigen von politischen und religiösen Organisationen ihre jeweiligen religiösen Dogmen und politischen Ziele zu legitimieren und zu verwirklichen suchen.“ (S. 7).

Dasselbe noch einmal anders formuliert:

„Erst durch die Sakralisierung der Politik werden antiaufklärerische, antimoderne und irrationalistische politische Bewegungen fundamentalistisch.“ (S. 8).

Er kritisiert, dass bei einem umfassenden Fundamentalismusverständnis, das einfach beim Widerstand gegen die Moderne ansetzt, „alle Religionen als fundamentalistisch bezeichnet werden“ „könnten“ (S. 8). Die darauf fußende Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus (S. 71ff.) entspricht genau meiner Unterscheidung.

Die Gefahr des Fundamentalismus erkennt er genau wie ich nur dann,

„wenn politisierte religiöse Dogmen und religiös begründete politische Zielvorstellungen gegen die universalistischen Werte von Menschenrecht und Menschenwürde verstoßen und wenn ihre Verwirklichung nicht mit den demokratischen Prinzipien und Regeln vereinbar ist“ (S. 10).

Das entspricht genau meiner Sicht der Menschenrechte als Wasserscheide in Fragen des Fundamentalismus, wie ich sie in meinem Buch beschrieben habe. Deswegen sieht er auch dort, wo die russisch-orthodoxe Kirche Menschenrechte ablehnt, Fundamentalismus (S. 69).

Wie ich kommt er deswegen auch zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, Fundamentalismus nur auf die Moderne zu beschränken oder nur bestimmte, immer wieder genannte Bewegungen als Beispiel anzuführen. So zählt er etwa wie ich den Ku-Klux-Klan (S. 22–23) und die PLO (S. 83–84), aber auch die Kreuzzüge, und zwar beide Seiten (S. 74, 77 u. ö.), zu den fundamentalistischen Bewegungen.

Neu für mich, aber sehr zutreffend, ist es, die Barmer Theologische Erklärung von 1934 als antifundamentalistische Erklärung zu sehen (S. 147)! Denn tatsächlich erklärt sie deutlich, dass das Evangelium nicht als parteipolitisches Programm taugt, und verteidigt zugleich die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber staatlicher Bevormundung.

 

5 Kommentare

  1. boanjerkes sagt:

    Sehr geehrter Herr Schirrmacher,

    wenn, wie SIe im vorherigen Blogeintrag schreiben, der Islam keine Trennung von Staat (und damit Politik) und Religion kennt, was ist dann das Kritierium, anhand dessen Islam von Islamismus als eigenständige Realität unterschieden werden kann und muss?

    Und wenn sich Religionen darin unterscheiden lassen, ob eine Politisierung in ihnen angelegt ist (Christentum vs Islam), aber in beiden Fällen Fundamentalismus möglich ist (zB für das Christentum die RO-Kirche), müssten dann nicht zwei (oder mehrere) unterschiedliche Fundamentalismusbegriffe mit jeweils konstitutivem Kriterium eingeführt werden, um die Realität wirklich sachgerecht zu beschreiben?

  2. boanjerkes sagt:

    Danke für Ihre Antwort auf meine zweite Frage. Da sie inhaltlich von der ersten abhängt, würde ich mich eine Antwort auf die erste Frage auch freuen.

  3. Roderich sagt:

    was ist dann das Kritierium, anhand dessen Islam von Islamismus als eigenständige Realität unterschieden werden kann und muss?

    Vielleicht ist es so, dass der „Islam“ von vielen gläubigen Muslimen nicht in jeder Hinsicht wörtlich genommen und umgesetzt wird. Wenn doch, landet man beim Islamismus.
    (Damit ist dann ein Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam. Denn wenn man das Christentum sehr genau nimmt, und Jesus nachfolgt, wird man zum „Friedensbringer“, vergibt den Feinden etc., während es beim Islam anders aussieht, da Mohammad selber als Vorbild ja viele Offensivkriege angeführt hat. Ist zwar nicht so politisch korrekt, aber so ist es leider).

  4. Roderich sagt:

    @boanjerkes,

    Frau Christine Schirrmacher hat ein Buch eigens zum Thema „Islamismus. Wenn Religion zur Politik wird“ geschrieben (in der Reihe „kurz und bündig“ bei Hänssler). Dort wird vielleicht so einiges klarer.

    Sie räumt dort ein:

    Mit dem Tod Muhammads, der für sich und seine Anhängerschaft Verteidigung wie Angriffskriege als legitime, ja von Gott verordnete Mittel zur Durchsetzung seines Führungsanspruchs betrachtete, endet der Koran. Um den Koran von jeglicher Befürwortung von Krieg und Politik im Namen des Glaubens grundsätzlich freisprechen zu können, fehlt dem Koran sozusagen ein „Neues Testament“, in dem politische Handlungsanweisungen aus Muhammads Lebenszeit entpolitisiert worden wären, ähnlich der Aufrufe Jesu zur Trennung des geistlichen und weltlichen Bereichs (vgl. Matthäus 22,21) oder der Mahnung des Paulus, das Gewaltmonopol dem Staat allein zu überlassen (Römer 13,1). Diese Lücke einer möglichen unpolitischen Interpretation des Korans, die er selbst zurücklässt, schloss auch nicht die klassisch-islamische Theologie in den ersten Jahrhunderten, zumal sich die weitgespannten islamischen Eroberungen unter den Nachfolgern Muhammads, den Kalifen, fortsetzten. Ja, bis heute hat die islamische Gelehrsamkeit an etablierten theologischen Institutionen und Universitäten noch keinen anerkannten Reformansatz zur generell unpolitischen Interpretation der „Schwertverse“ des Korans gefunden. Wohl gibt es die progressiv, modernistisch oder liberal denkenden muslimischen Intellektuellen, die Vorkämpfer für Freiheit und Menschenrechte, für Aufklärung und Frauenrechte, die ernsthaften Befürworter einer Trennung von Staat und Religion, die sich entschieden gegen die Vereinnahmung des Islams durch die Politik aussprechen und eine unpolitische Neubewertung der Quellen fordern. Allerdings werden ihre unorthodoxen Auffassungen vom religiösen und politischen Establishment noch immer an den Rand ihrer Gesellschaften gedrängt, sodass ihre Positionen den offiziellen Diskurs wenig beeinflussen. Prinzipiell unpolitisch sind darüber hinaus auch die zahlreichen mystischen Bewegungen, deren Anhänger ihren Glauben durch eine nach innen gewandte Gottsuche und Versenkung in meditative Anbetungsformen praktizieren, aber auch sie sind nicht diejenigen, die einen Wechsel des theologischen Kurses an Universitäten und Moscheen einleiten könnten.

    Es gibt sie zwar, die Advokaten eines unpolitischen Islam, die Befürworter einer Trennung von politischer und religiöser Sphäre, Theologen und Intellektuelle, die sich für eine Trennung des Islam als Religion von der politischen Botschaft der Herrschaft und des Jihad in der Moderne aussprechen. Und es gibt viel mehr Muslime – oder allgemeiner: Menschen aus islamisch geprägten Ländern und Familien – die den Islam mehr oder weniger intensiv praktizieren, aber ihn als spirituelle bzw. ethische Botschaft auffassen. Dies können außer den genannten Mystikern (Sufis) auch traditionalistische oder sogar orthodoxe gläubige Muslime sein, die dennoch nicht für eine Vermischung von Politik und Religion eintreten.
    Wer also behauptet, es gäbe ohnehin nur „einen Islam“ – seinen politischen Zweig, den Islamismus bzw. den gewaltbereiten Jihadismus – und Muslime, die sich nicht dazu bekannten, führten ihre Gesprächspartner bewußt in die Irre – der hat sich selbst der einseitig politischen Sichtweise des Islamismus angeschlossen, der gleichermaßen vertritt, dass es nur einen einzigen „wahren“ Islam gibt.

    Soweit also die sehr informierte und ausgewogene Sichtweise von Frau Schirrmacher.

    Also zu ihrer Frage: Unterschied Islam versus Islamismus ist wohl nicht möglich. Ich würde eher sagen: es gibt einen Unterschied zwischen islamistischen und nicht-islamistischen Muslimen, d.h. zwischen Muslimen, die sich für die Trennung von Religion und Politik einsetzen, und solchen, die sich für das miteinander einhergehen beider Dinge einsetzen (Islamisten). Dabei sind Islamisten dem Koran eher treu, aber es wäre wünschenswerter, wenn es eine Reform des Islam gäbe. Dazu müsste man ihn aber an manchen Stellen nicht als wörtlich ansehen.
    Also entweder, man sieht den Koran da als „falsch überliefert“ an, oder man sagt: dies ist heute nicht mehr der Wille Gottes. Beides scheint aber in der heutigen Islamischen Gelehrtengemeinschaft in islamischen Ländern nicht möglich.
    (Daher finde ich es zwar gut, wenn Muslime hier einen Reformislam fordern – sie dürfen aber nicht behaupten, dass der Reformislam in Muslimischen Ländern viel zu sagen hat, denn das ist schlicht nicht wahr).

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