Seit vielen Jahren gibt es für jedes Jahr immer nur eine einzige Zahl, die jährlich als Gesamtzahl der christlichen Märtyrer pro Jahr angegeben wird, die Zahl des ‚Global Status of Mission’. Diese Zahl wird zwar von verschiedenen Institutionen zitiert, aber nur von einer Institution errechnet. Derzeit wird sie am häufigsten vom päpstlichen Missionswerk ‚Kirche in Not’ (‚Aid to the Church in Need’) zitiert, das von 130.000–170.000 Märtyrern pro Jahr spricht, aber keine eigenen Untersuchungen durchgeführt hat.
Diese Zahl wird jährlich im International Bulletin for Missionary Research[1] vorgelegt. Für 2010 stand die Zahl bei 178.000, für 2009 bei 176.000,[2] für 2011 ist sie – unter anderem aufgrund unseres Einspruchs – auf 100.000 korrigiert worden.[3] Da die Zahl sich jährlich ändert, denkt jeder, es handele sich um die Zahl der Märtyrer im jeweiligen Jahr, aber tatsächlich soll den Durchschnitt pro Jahr des jeweils letzten vollen Jahrzehnts angeben (also z. B. 1990-2000, 2000-2010).
Der Kommentar zu ‚Global Status of Mission’ gibt selbst an, dass die Zahl die wohl am häufigsten zitierte Zahl aus dieser Statistik ist.[4] Durch die Bücher ‚World Christian Encyclopedia’, ‚World Christian Trends’, ‚Atlas of Global Christianity’ und die elektronische ‚World Christian Database’ ist die Zahl in dieser Größenordnung weit verbreitet worden.
Es fällt mir schwer, diese Zahl wegen ihrer weiten Verbreitung zu kritisieren, zumal sie von seriösen Forschern und guten Freunden kommt. Aber als Wissenschaftler habe ich solche Zahlen zu oft vor säkularen Kollegen, Politikern weltweit, des Deutschen Bundestages oder des Europäischen Parlaments, und natürlich Journalisten zu verantworten, als dass unser Institut (das International Institute for Religious Freedom) sie einfach nur übernehmen könnte.
Da die Zahl von vielen säkularen, christlichen, darunter auch evangelikalen[5] Forschern und Fachleuten 1. als viel zu hoch angesehen wird, und 2. als aufgrund zahlreicher Faktoren überhaupt nicht zu erheben gilt, wäre es wünschenswert, wenn es eine genaue Darstellung gäbe, aufgrund von welchen umfangreichen Recherchen die Zahl erhoben wird, welche wissenschaftliche Vorgaben dabei befolgt werden oder wie die Belastbarkeit von Forschungskollegen überprüft werden kann. All’ das liegt nicht vor – auch die ausführlichste Darstellung in den ‚World Christian Trends’ sagt nirgends, woher die Daten kommen und nach welchen Kriterien geschätzt wird.[6]
Nur ist in unserer heutigen Medienwelt natürlich jemand mit einer noch so grob geschätzten Zahl im Vorteil gegenüber demjenigen, der sagt, dass die Zahl derzeit nicht zuverlässig zu erheben ist.
Die Rolle von Bürgerkriegen
Die Zahl der 156.000–178.000 Märtyrer pro Jahr sind nach eigenen Angaben eigentlich eine Durchschnittszahl pro Jahr für die zehn Jahre 1990–2000.[7] Dabei muss man aber wissen, dass der weit aus größte Anteil der 1,6 Mio. Märtyrer in zehn Jahren auf die Bürgerkriege im südlichen Sudan und in Ruanda entfällt, ohne dass das ausdrücklich gesagt wird. Selbst bei einer sehr weiten Definition („martyrs in the widest possible sense“) von Christenverfolgung dürfte es aber zumindest umstritten sein, inwieweit man Ruanda überhaupt dazurechnen darf und wie hoch der Anteil der Toten im Südsudan ist, der auf Verfolgung von Christen durch Muslime zurückgeht und nicht entweder Animisten traf oder von südsudanesischen, brutalisierten Bürgerkriegsparteien ausging.
Für die zehn Jahre 2000–2010, deren Durschnitt die neue Zahl 100.000 aus 2011 ergeben soll, spielen Südsudan und Ruanda keine Rolle mehr. Hier fällt der Mammutanteil der jetzt angegeben 10 x 100.000 auf den Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo (DRC). Zwar starben dabei viele Christen, aber dass sie starben, weil sie Christen waren, wird meines Wissens in der Literatur von niemandem vertreten. Vermuten wir einmal, dass für DRC 900.000 Märtyrer veranschlagt wurden. Der Rest von 100.000 Märtyrern pro Jahr über 10 Jahre käme dann einer viel niedrigeren Zahl schon recht nahe.
Was ich vor allem bemängele ist, dass nirgends die Zusammensetzung der Zahl nach Ländern angegeben wird und zwar so, dass man die Schwerpunktländer erkennen und diskutieren kann, also etwa Kongo. Dann wäre nämlich sehr leicht zu ersehen, auf welche 1–2 Länder die hohe Zahl zurückgeht. Und ich bemängele, dass über diese schwer einzuordnenden 1–2 Situationen dann keine Diskussion stattfindet.
Nun wird ja nicht einfach jeder Christ, der in einem Bürgerkrieg wie im Kongo stirbt, mitgezählt. Es wird ein Anteil der getöteten Christen geschätzt, der als Märtyrer starb. Dieser Anteil müßte dann aber erst einmal diskutiert und begründet werden. Stattdessen erfährt man nirgends, welcher Anteil geschätzt wurde, geschweige denn wieso. Es heißt nur „a substantial proportion“ der 5,4 Mio. im Kongo. Eine Erhöhung des Anteils der Märtyrer im Kongo um 10% würde aber die Gesamtzahl der 100.000 Märtyrer pro Jahr um 54.000, also um 30% noch oben steigen lassen! Würden 10% weniger als der unbekannte Prozentsatz im Kongo geschätzt, wären das jährlich 54.000 weniger, das heißt die Zahl von 100.000 würde auf 46.000 um über 50% schrumpfen! Das heißt, bei der Schätzung des Anteils der Märtyrer an den Opfern der Unruhen in Kongo wird de facto die Gesamtzahl der Märtyrer weltweit entschieden.
Zur Definition
Ich sehe einen generellen Widerspruch zwischen der Definition des ‚Status of Global Mission’, Märtyrer seien „believers in Christ … in a situation of witness“ und der Aussage „Defining and enumerating martyrs in the widest possible sense“.
Eine innerchristliche, theologische Definition wird immer viel enger sein, als eine soziologische. Als Religionssoziologe sehe ich durchaus, dass für die säkulare Welt eine sehr weite Zahl gewählt werden darf, die nicht darauf Rücksicht nimmt, ob der ermordete Christ ein Baby, ein schlechter Kirchgänger oder ein Sektierer war. Ich halte dann selbst die „situation of witness“ für unnötig. Wenn in Ägypten eine Kirche in die Luft gesprengt wird und dabei 20 Menschen getötet werden, ist das Christenverfolgung, sogar dann, wenn die 20 Ermordeten nur interessierte Gäste waren.
Meine weiteste politische Definition wäre: „Getötete Christen, die nicht getötet worden wären, wenn sie keine Christen gewesen wären.“ Aber: Selbst wenn ich diese Definition zugrunde lege, komme ich bei weitem nicht auf 170.000 oder 100.000 christliche Märtyrer pro Jahr.
Mehr als 50 Märtyrer am Tag?
Ereignisse mit 20 oder 50 ermorderten Christen werden heutzutage nicht nur in der christlichen Welt breit berichtet, sondern in einigen Ländern wie Deutschland in der Regel sogar auf der Titelseite von Zeitungen. Experten, die sich mit Christenverfolgung beschäftigen, bekommen sie sowieso mit. Keiner würde sagen, dass das jeden Tag vorkommt. Aber selbst wenn wir einmal davon ausgehen, es gäbe täglich ein Ereignis mit 50 ermorderten Christen, wären das im Jahr immer noch erst 18.250. Bei 20 am Tag wären es 7.300 – eine Zahl, die ich für realistischer halte.
Man mag entgegen halten, dass es Ereignisse mit höheren Zahlen als 50 gab und gibt. Ja, es gibt sie, aber es sind Einzelereignisse und sie sind über die Jahre versetzt. Ich kenne folgende Länder in den letzten Jahren, auf die das zutrifft: Indonesien, Indien, Irak, Nigeria. Nur dass sich diese Ereignisse kaum überschnitten haben. In den letzten Jahren sind diese schrecklichen Ereignisse punktuell innerhalb von 1–3 Jahren geschehen und in den Jahren danach von anderen Schwerpunktländern abgelöst werden. Oder anders gesagt: Ein Ereignis mit mehr als 100 christlichen Märtyrern in einem Land pro Jahr gibt es in der Regel in einem Jahr nur einmal auf der Welt.
Was für merkwürdige Zahlen herauskommen, wenn man einfach grob schätzt, zeigt sich, wenn man in der ‚World Christian Database’ die Länder nach der jährlichen Zahl der Märtyrer sortiert, wobei dort der Durchschnitt der letzten 50 Jahre gewählt wurde, also ab 1960.
In Dänemark und Finland soll es je 15 Märtyrer pro Jahr geben, in Schweden 19, in der Schweiz 20, in den Niederlanden 39, in Australien 45, in Kanada 76, in Großbritannien 149 und in Deutschland sage und schreibe 192. In all diesen protestantischen Ländern sind seit 1960 keine Märtyrer bekannt, niemals aber das jeweils 50fache der genannten Zahlen.
Dass die hohen Zahlen schwer nachvollziehbar sind und auf großzügige Schätzungen der Anteile christlicher Märtyrer an Krieg und Bürgerkrieg zurück gehen, gilt genauso für die Geschichte. Gab es wirklich 1.000.000 Märtyrer durch die Nationalsozialisten? Kein Erforscher des Nationalsozialismus (zu denen ich mit 2 Dissertationen selbst zähle) würde das bestätigen. Zwar starben im 2. Weltkrieg Millionen von Christen, aber nicht, weil sie als Christen verfolgt wurden. Zu wirklichen christlichen Märtyrern zählen solche Christen, die wegen ihres christlichen Widerstandes oder als Geistliche oder Vetreter von Glaubensgemeinschaften getötet wurden. Ihr Schicksal ist sehr gründlich erforscht, ihre Geschichte wird in Personenlexika dargestellt und zu fast jedem liegt ein Lebenslauf vor.[8] Dennoch sind es insgesamt nur einige Tausende, nicht 1 Mio.
Soviel Märtyrer wie Tote in Bürgerkriegen und Kriegen?
Ich möchte noch einen anderen Vergleich ziehen, der mir die Zahl 170.000 oder 100.000 als zweifelhaft erscheinen läßt. Laut Statistik der World Health Organization gab es 2004 184.000 Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen.[9] Und die Zahl der Märtyrer soll etwa genauso groß sein, ohne dass man die Fälle, die diese Zahlen zusammenbringen lassen, selbst als Experte nicht sofort auflisten kann? Man kann doch alle Kriege und Bürgerkriege eines Jahres auflisten und so deutlich machen, wie sich die 184.000 Opfer verteilen. Wenn die Zahl der Märtyrer etwa genauso groß ist: wieso kann man dann nicht genauso die Ereignisse auflisten und zusammenzählen, quasi aus dem Kopf? Wieso fallen dann selbst Experten viel zu wenige Großereignisse ein, die die hohen Zahlen erklären könnten?
Auf dem Weg zu einer tatsächlichen Zahl für vergangene Jahre
Wie hoch ist denn die Zahl der jährlichen christlichen Märtyrer tatsächlich? Ich beschäftige mich seit Jahren damit und habe weltweit mit jedem mir bekannten Experten aller großen Konfessionen und darüber hinaus diskutiert, der dazu etwas zu sagen hat. Einmal ganz abgesehen von der Schwierigkeit der Definition: Selbst wenn man eine konkrete Definition vorgibt, weichen Experten schon für einzelne Länder stark voneinander ab. Sind die ‚verschwundenen Christen’ Nordkoreas vor Jahrzehnten oder Jahren umgebracht worden oder leben sie noch in Zwangslagern und werden auch aktuell getötet?
Fragt man nach der Gesamtzahl weltweit, wagt praktisch keiner eine Schätzung. Zudem sind sich alle einig, dass eine Durchschnittszahl keinen Sinn macht, sondern die Zahl der Märtyrer von Jahr zu Jahr sehr stark schwankt. Deswegen muss die Zahl – wenn überhaupt – für jedes Jahr neu erhoben werden. Wer eine Zahl für z. B. 2010 hört, geht ja sowieso davon aus, dass dies kein Durchschnittswert für 1990–2000 ist, sondern dass irgendeine Institution die Zahl konkret für 2010 erforscht, belegt oder wenigstens realistisch aufgrund von Berichten geschätzt hat.
Insgesamt sind wir meines Erachtens von einer zuverlässigen Zahl der Märtyrer pro Jahr weit entfernt. Das Internationale Institut für Religionsfreiheit wird am Ball bleiben und will zu einer fairen und offenen Diskussion weltweit beitragen.
Was wir brauchen ist eine Datenbank, in der wir für ein Jahr alle bekannten, größeren Fälle eintragen so dass wir am Ende eines Jahres nicht nur eine brauchbare Schätzung gewinnen, sondern jeder anhand der Auflistung die Belastbarkeit der Schätzung überprüfen kann.
[1] www.internationalbulletin.org.
[2] „Status of Global Mission, 2011“, see http://ockenga.gordonconwell.edu/ockenga/globalchristianity/resources.php.
[3] „Status of Global Mission, 2011“. International Bulletin of Missionary Research 35 (1011) 1: 29, line 28; cf. Commentary „Christianity 2011: Martyrs and the Resurgence of Religion“. Ibid. p. 28.
[4] Ibid. p. 28.
[5] Z. B. http://www.persecution.net/faq-stats.htm;
[6] David Barrett, Todd Johnson. World Christian Trends. Pasadena (CA): William Carey Library, 2001. Kap. 16.
[7] „Christianity 2011: Martyrs and the Resurgence of Religion“. Ibid. p. 28.
[8] Z. B. für den katholischen Bereich: Helmut Moll (Hg.). Zeugen für Christus: Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. 2 Bde. Paderborn: Schöningh, 2010, 5. Aufl.; für den evangelischen Bereich: Harald Schultze und Andreas Kurschat (Hg.). „Ihr Ende schaut an …“: Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 20082.
[9] World Health Organisation. The Global Burden of Disease. Geneva: WHO, 2008. S. 74, s. http://www.who.int/topics/global_burden_of_disease/en/. Vgl. die Angabe von 171.000 für 2002 in der Karte des Atlas der wirklichen Welt: http://www.worldmapper.org/display_extra.php?selected=484.
Ein Kommentar
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