Ein pietistischer Theologieprofessor fordert 1877 die Beendigung des chinesischen Opiums­handels

Auszug aus Thomas Schirrmacher. Theodor Christlieb und seine Missionstheologie. Telos: Wuppertal, 1985.

„Die siebente allgemeine Versammlung der evangelischen Allianz in Basel spricht – aus Veranlassung der Berichte über den gegenwärtigen Stand der evangelischen Heidenmission – ihre volle Sympathie mit den Bestrebungen zur Unterdrückung des Opiumhandels aus, und unterstützt den Protest gegen des­sen Fortdauer, wie er mit wachsendem Nachdruck in den letzten Jahren von vielen englischen Brüdern verschiedener Denominationen, ja von der Reprä­sentation ganzer englischer Kirchenkörper erhoben wurde. Sie erklärt mit ih­nen diesen althergebrachten Handel auch in seiner jetzigen legalen Form für ein schreiendes Unrecht gegen China, für ein die Ehre des Christennamens tief schädigendes Ärgerniss in der Christen- und Heidenwelt und insbesondere für ein schweres Hinderniss des christlichen Missionswerks. Sie erachtet eine Änderung der bisherigen englischen Opiumpolitik für dringend geboten im all­gemein christ­lichen Interesse, und beauftragt ihre Vorsitzenden, diess zur Kenntniss des Staatssecretärs für Indien zu bringen.
Dr. Christlieb (Bonn).
Rev. W. Arthur (London).
Th. Necker (Genf).“

Immer wieder wird der Vorwurf gegenüber bibeltreuen Christen erhoben, dass sie sich nicht gegen das so­ziale Elend in dieser Welt einsetzen. Die Geschichte der pietistischen Mission hat für viele die Bekämpfung des Elends vergessen. Dass dieser Vorwurf unberechtigt ist, zeigt die Geschichte der Mission selbst. Sicher war die Verkündigung der Botschaft der Sündenvergebung durch Jesus Christus Priorität. Sie führte jedoch nicht automatisch dazu, dass die Augen vor den Problemen der Welt verschlossen blieben.

Ein Beispiel dafür ist der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb (1833–1889), Vater der inner­kirchlichen Gnadauer Bewegung und der Westdeutschen Evangelischen Allianz. Als Missionswissenschaftler hat er wesentliches für die protestantische Missionsarbeit geleistet.

Eine umfassende Darstellung seines Lebenswerkes bietet: Thomas Schirrmacher, Theodor Christlieb und seine Missionstheologie, Wuppertal 1985. Dort finden sich ausführliche Belege zu allen Aussagen dieses Artikels auf den S. 166-170.

Vor 136 Jahren erschien sein Buch ‚Der indobritische Opiumhandel und seine Wirkungen‘ (1878). Christliebs Studie zum Opiumhandel ist vielleicht sein Buch, das die weiteste Verbreitung erreicht hat und das – wie Gustav Warneck in seinen drei Rezensionen verfolgt – eine weltweite und breite Pressediskussion auslöste. Der chinesische Gesandte in Berlin übersetzte es sogar ins Chinesische . Eine Postkarte an Eduard Schaer in Zürich schildert etwas von der Resonanz:

„Indem ich Ihnen, verehrter Herr College, für Ihre freundliche Zuschrift u. den mitfolgenden Vortrag, den ich mit Interesse durchlas, verbindlichst danke, möchte ich Ihnen nur mittheilen, dass dieser Tage in Genf u. Paris eine französ. Übersetzung meines Opiumhandels erscheint, auf die Sie vielleicht französisch redende Freunde aufmerksam machen können. Ein Banquier in Genf hat sich sehr dafür interessiert. In Amerika ist das Büchlein durch Nachdruck schon ziemlich bekannt geworden (10.000 Exempl.). Auch sonst habe ich wieder freudig zu­stimmende Urtheile, auch von Collegen in der medizinischen Fakultät, besonders auch von England u. Russland. Sollte eine neue Auflage nöthig werden, so werde ich mir erlauben, Sie um gef. Zusendung der Schrift des spani­schen Gesandten, die ich noch nicht kenne, zu ersuchen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung D.Christlieb Bonn, 30/XII 78.“

Schon in England hatte sich Christlieb nicht nur zusammen mit Elias Schrenk gegen den Sklaven­handel gewandt, sondern auch gegen den Opiumhandel. In seinem AMZ-Beitrag von 1875 richtete er sich ebenfalls schon gegen den Opiumhandel. Nach der Abfassung der Schrift von 1877 kämpfte er weiter für das Anliegen, etwa auf der Internationalen Allianzkonferenz in Basel 1879 und auf einer Synode. Er erreichte sogar eine Interpellation im britischen Parlament, die aber leider ergebnislos blieb. Trotzdem verlor er das Problem bis in sein Sterbejahr nicht aus den Augen. Eine Werbung des Verlages sagt zu Recht:

„Der bekannte Autor ist so ziemlich der erste, welcher sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt hat. Das Werk ist übersichtlich in vier Teile gegliedert. In einer fünfseitigen Einleitung nennt Christlieb zunächst den Anlass der Arbeit. Es ist, wie er gleich in aller Schärfe formuliert, der Massenmord durch christliche Habgier. Dies gilt für die Sklaverei ebenso wie für den Branntweinhandel. Es ist für ihn klar, dass unsre fortschrittstrun­kene Zeit sittliche Ungeheuer großzieht. Doch nun veranlaßt ihn der Opiumhandel Großbritanniens zu aller­schärfsten Formulierungen.

Denn dieselbe Nation, die in der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts durch eine heroische That sich vom Fluch des Sklavenhandels und endlich auch der Sklaverei in ihren Colonien und damit eine Hauptursache des Mas­senmords nach Kräften beseitigte, ja mit beträchtlichen Opfern heute noch in West- und Ostafrika zu beseitigen bemüht ist, dieselbe Nation ist es, die in der 2. Hälfte des Jahrhunderts den Klagen, den flehentlichen Bitten der chinesischen Regierung, ja dem Aufschrei des christlichen Gewissen in ihrer Mitte zum Trotz in steigender Pro­gression alljährlich Hunderttausende von Chinesen durch ihr Opium ihrer Gewinnsucht, genauer ihrer Defizits­furcht bei dem indischen Budget zum Opfer bringt, ja die – eine christliche, eine protestantische Macht! – mit ih­rem Zwangsgift nicht bloß, wie andere Massenmörder, die Leiber, sondern fast immer zugleich die Seelen, die ganze geistige und sittliche Kraft ihrer Schlachtopfer hinwürgt! Eine Zwittergestalt, mit der einen Hand groß­müthig Leben und Freiheit der Negerwelt spendend und schützend, mit der andern dem zuckenden Riesenleib Chinas gewaltsam Tod und Knechtschaft durch sein Gift einimpfend, in Afrika von Tausenden gesegnet, in Ostasien von Millionen verflucht, so steht England mit seiner Colonial- und Handelspolitik heute vor uns. Die stolze Flagge Albions trägt einen breiten Schmutzflecken.“

Die letzten Seiten der Einleitung füllt er mit Hinweisen auf andere Arbeiten und Schriften, die sein großes Wissen der Schriften vieler Länder zeigen.

Im ersten Teil gibt Christlieb dann einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung des britischen Opium­handels bis zur Gegenwart. Er beginnt im 16. Jahrhundert, wird dann aber in dem Moment, als 1780 das Opium nicht mehr nur als Arznei verwendet wurde, ausführlicher. 1799 wird die Opiumeinfuhr verboten und der Schmuggel blüht.

„Gesetzesübertretung und Insubordination gegen ihre Vorgesetzten hat wohl Niemand die Chinesen systema­tischer und erfolgreicher gelehrt, als die anglo-indische Regierung.“

1839 müssen alle Beamten der ostindischen Kompanie China verlassen. Zwei Kriege gegen China (1842-1843 und 1857-1860) öffnen die Häfen und ermöglichen es nun den Missionaren, China von den Hafenstäd­ten aus zu missionieren. Der 1877, also bei Abfassung der Arbeit, noch gültige Vertrag von Tien-tsin von 1860 erlaubt auch die Opiumeinfuhr. Da Indien, der Herstellungsort des Opiums, 1858 von der ostindischen Kompanie an die englische Krone überging, sieht Christlieb Englands Verantwortung als noch größer an.

Im zweiten Teil untersucht Christlieb die Wirkungen des Opiumhandels auf Indien, England und China. Die Wirkungen auf England und Indien sind:

  1. Trotz drohender Hungersnöte geht weiterhin wertvolles Getreide- und Ackerland verloren.
  2. Trotz Verbot verbreitet sich die Opiumsucht auch in Indien und sogar in England selbst.
  3. Die Ehre Englands geht in den Augen der Inder verloren.
  4. Die indische Regierung wird demoralisiert. Sie fördert das Opiumgeschäft mehr als die Beschaffung lebensnotwendiger Dinge für die Bevölkerung.
  5. Das indische Staatsbudget ist inzwischen zu einem Sechstel vom Opiumhandel abhängig.
  6. Der Opiumhandel hält andere Länder vom Handel mit England und China zurück.

Insgesamt nützt der Opiumhandel also selbst in England und Indien nur wenigen. Die Auswirkungen auf China sind allerdings viel verheerender, nämlich eine völlige Demoralisation der Bevölkerung. Am erschüt­terndsten sind die Folgen beim Opiumraucher selbst und die zahllosen Verbrechen, die begangen werden, um an Opium heranzukommen. So untersucht Christlieb zunächst die Zahl der Opiumabhängigen und Opi­umopfer, wobei er 6 Millionen Raucher und 600.000 Tote pro Jahr für die beste Schätzung hält. Mit medizi­nischen Gründen widerlegt Christlieb das Argument, dass Opiumsucht eine Sucht wie andere ist. Dem Ab­hängigen geht viel stärker und unbewußter die Willenskraft verloren und die Regel ist, dass er fortfährt, bis er in ein frühes Grab sinkt. Weitere Folgen des Opiumhandels sind die Verarmung des Landes, das Vermie­ten von Frauen, der Ausländerhaß, zahllose Feindseligkeiten und überhaupt unglaublich grausame Zu­stände, deren Existenz kaum noch jemand zu bestreiten wagt.

Ohne dass es eine gewollte Trennung zwischen christlich-missionarischen und politisch-wirtschaftlichen Argumenten gibt, folgt nun der dritte Teil Der Einfluß des Opiums auf das Missionswerk in China. Nach den statistischen Hinweisen, dass es 208 evangelische Missionare und 20.000 Konvertiten in China gibt, be­schreibt Christlieb den Zusammenhang der Kolonialpolitik mit der Mission, den viele erst im Boxeraufstand 1899 oder sogar erst nach dem 2.Weltkrieg erkennen sollten:

„Der Opiumhandel mit all den Verwicklungen und Verträgen in seinem Gefolge hat äußerlich China dem Evangelium geöffnet, aber er verschließt auch innerlich Millionen chinesischer Herzen der Predigt durch die schändliche Habgier, aus der er entsprang, durch die Gewalt, mit der er dem Lande wider seinen Willen aufge­zwungen wurde und wird, durch die physischen und sittlichen Verwüstungen, die er anrichtet, mit Einem Wort: durch das schmähliche Licht, das er auf seine Träger, die Christen wirft, die dadurch dem natürlichen heid­nischen Gewissen gegenüber als sittlich viel tiefer stehend und darum als unfähig zu religiössittlicher Belehrung Anderer erscheinen müssen.“

Er zitiert das Plakat eines Chinesen:

„Vor 20 Jahren hätten sie mit mehr Aussicht auf Erfolg predigen können … Selbst sündenbeladen gebt ihr vor, Andere bessern zu können.“

Nach weiteren Beispielen formuliert er das Haupthindernis für die Mission. Dieses Missionshindernis ist nur bei Gleichsetzung von missionierender Kirche und christlichem Volk zu verstehen, die die Chinesen auf jeden Fall vornehmen mußten. Es zeigt sich für Christlieb, daß

„… das heidnische Gewissen sich als höher stehend erweist denn das golddurstverblendete der Christen! Wie können die Chinesen das Evangelium als das Heil auch ihres Volkes von denen annehmen, die sie täglich durch ihren scheußlichen Handel am Ruin Chinas arbeiten sehen? ? Oh, eine jede Handlung, die dazu dient, das Chri­stentum in Verruf zu bringen, ist ein Verrath an der wahren Civilisation der Menschheit.“

Allerdings steht Christlieb nun auch dem Gedanken des christlichen Abendlandes kritisch gegenüber:

„Und wie lange wird es brauchen, bis das chinesische Volk zwischen sogenannten christlichen Kaufleuten und Regierungen und wirklichen christlichen Predigern, zwischen dem Evangelium an sich und der thatsächli­chen Verleugnung seiner Prinzipien durch so viele Christen einen Unterschied zu machen gelernt haben wird!“

In einem letzten kürzeren Teil kehrt Christlieb wieder zur politischen Seite zurück und fragt: Kann dem Übel abgeholfen werden? Zunächst deckt Christlieb die zum Teil absurden Begründungen auf, wieso der gegenwärtige Zustand nicht abzuschaffen oder sogar positiv zu sehen ist. So greift er zum Beispiel das Ar­gument an, dass China sowieso überbevölkert ist und widerlegt die Behauptung, dass die Abschaffung des Opiumshandels zu teuer zu stehen kommt. Er rechnet genau vor, wieviel die Beseitigung des Opiumhandels kosten würde und welche Ersparnisse sie brächte und zeigt, dass nach einiger Zeit die indische Regierung fi­nanziell besser dastände. Dann stellt er aber unabhängig von den Berechnungen fest:

„Die Frage hat zwei Seiten, eine moralische und eine finanzpolitische. Setzt man falscher d.h. unchristlicher Weise die letztere zuoberst, so scheinen die Schwierigkeiten endlos, und man kommt aus peinlichen Befürchtun­gen nicht heraus …“

Er fordert dann schließlich:

„Also was thun? Wir antworten: in erster Linie das Gewissen fragen und nicht den Geldbeutel! Ist die Fort­setzung dieses Handels, der nur mit Waffengewalt legalisirt werden konnte, während China um Erlösung davon bittet, weil das Elend von Millionen dadurch Vergifteter gen Himmel schreit, recht d.h. vor Gott und den Men­schen gerechtfertigt oder nicht? Und wenn ihr humaner Weise nicht anders als Nein! antworten könnt, so folgt in Gottes Namen dieser Stimme …“

Es ist nach Christliebs Meinung besser, das Unrecht aufzugeben und als Christen Vertrauen auf Gott zu zeigen, der sich zum Abschaffen des Unrechts stellen wird.

 

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