Eine frühe Kurzfassung, die hier inhaltlich verbessert wurde, erschien als Kommentar bei PRO online.

Spiegel 29/2017

Im Bundestagswahlkampf bildet sich eine Allianz zwischen AfD und frommen Christen, schreiben Valerie Höhne und Peter Wensierski im „Spiegel“ 29/2017.

Was einen gleich stutzig macht: Die AfD ist nicht dort am stärksten, wo Evangelikalenhochburgen liegen, wie Siegen oder Stuttgart. Stutzig macht ebenso der Umstand, dass die Parteien rechts von der CDU einschließlich der AfD nirgends mehr Zulauf haben als in den Neuen Bundesländern. Hier gibt es vielerlei Studien und Hypothesen, woran das liegen könnte, keine aber vermutet auch nur im Entferntesten, dass das an evangelikalen Christen läge. Der Umstand, dass die AfD dort von niemand mehr Stimmen abzieht als von der Linkspartei, unterstreicht dies nur.

Irgendeinen offiziellen Beleg für eine solche Allianz gibt es nicht. Weder signalisiert die AfD eine solche Nähe noch die offiziellen Vertretungen der Evangelikalen (oder etwa auch der Freikirchen). Im stattfindenden Wahlkampf ist keinerlei Tendenz dieser Art auszumachen.

Fakt ist: Unter dem Führungspersonal der AfD ist keine bekannte evangelikale Leitungspersönlichkeit und niemand in der AfD-Führung beschreibt sich als evangelikal.

Die Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) hat Wahlprüfsteine veröffentlicht und dazu auch allen im Bundestag vertretenen Parteien plus FDP und AfD 35 Fragen vorgelegt. Alle Parteien außer der AfD haben diese beantwortet, die AfD hat nicht reagiert. Sie scheint hier jedenfalls nicht ihr Klientel zu sehen.

Fakt ist: Keine evangelikale Leitungspersönlichkeit spricht sich öffentlich erkennbar für die AfD aus. Ich kenne aber genügend von ihnen, die kein Hehl daraus machen, dass sie CDU oder SPD oder Grüne für die bessere Wahl halten. Das schlechte Abschneiden der AfD hier ist sogar verwunderlich, denn wenn sich 5–10% der evangelikalen Leiter, die sich politisch ‚outen‘, für die AfD aussprechen würden, wäre das ja immer noch nur der zu erwartende Durchschnitt der Deutschen.

Natürlich gehören einzelnen AfD-Kandidaten Freikirchen an, aber keiner hat dort auch nur lokal eine wichtige Leitungsfunktion inne. Die „Christen in der AfD“ haben in der Partei praktisch keinen Einfluss, während etwa der Evangelische Arbeitskreis der CDU Antragsrecht auf dem Parteitag hat und bis heute Spitzenpolitiker hervorbringt, nicht zuletzt die Bundeskanzlerin selbst.

Also soll es die Statistik richten. Es gibt aber nur eine Umfrageserie dazu, nämlich die von idea initiierte Umfrage des Insa-Consulere-Instituts. Hier ist jedoch nicht von Evangelikalen die Rede, sondern von Freikirchlern. Wer sich bei einer Online-Umfrage als Freikirchler einstuft, wird ein ‚bunter Haufen‘ von allerlei verschiedenen Gruppen sein.

Zur Umfrage: Freikirchler und AfD

Das Ergebnis ist vermeintlich, Freikirchler würden prozentual häufiger für die AfD entscheiden als landeskirchliche Protestanten und Katholiken. Und Dutzende von Qualitätsmedien haben nichts Besseres zu tun, als das Ergebnis bekanntzumachen und gegen „die Freikirchen“ einzusetzen oder auch gegen „die Evangelikalen“, als wüsste man nicht, dass diese beiden Begriffe nicht nur jeder für sich schwer zu definieren ist, sondern alles andere als deckungsgleich sind, etwa weil grob die Hälfte der Evangelikalen in den evangelischen Landeskirchen beheimatet sind.

Nun aber zu den Freikirchlern, die vermeintlich häufiger die AfD favorisieren, übrigens aber auch Bündnis 90/Die Grünen (10% der Freikirchler gegenüber 5% der Katholiken und 7% der Bürger) und die Linken (6% der Freikirchler gegenüber 4% der Katholiken und 9% der Bürger).

Wenn man die Mitglieder aller kleineren Parteien in Deutschland (also alle Parteien außer CDU/CSU und SPD) in einen Topf werfen würde, würde jedwedes Ergebnis auch nicht annähernd eine der Parteien beschreiben, sondern einen nichts besagenden Durchschnitt aus FDP und Grünen, AfD und Linken usw. ergeben. Dasselbe gilt für die evangelischen Freikirchen, einem Mix aus den pazifistisch orientierten Mennoniten und den das staatliche Gewaltmonopol betonenden freikirchlichen Lutheranern, den viele afrikanischen und außereuropäischen Migrantengemeinden und womöglich gar neuerdings den 350.000 Mitgliedern der Neuapostolischen Kirche (vgl. dazu hier und hier), den sog. russlanddeutschen Kirchen und den Anglikanern. Und selbst wenn man der Studie vertraut: Über die Evangelikalen besagt sie gar nichts.

Nun dazu, warum die Studie auch über Freikirchler nichts besagt. Eine Onlineumfrage ist natürlich zunächst einmal schon an sich nicht repräsentativ. Sodann haben sich 2085 Leute gemeldet: Was soll das Tragfähiges ergeben, wenn es um eine Minderheit geht? Wenn wir einmal unterstellen, dass entsprechend des Bevölkerungsanteils grob geschätzt 2% der Beantworter Freikirchler waren, dann waren das 40. Von diesen 40 hätten dann sechs bis sieben die AfD favorisiert. Einer weniger, also fünf AfD-Befürwotrer, hätte dann schon alles ins Lot gebracht. Das ist doch keine Basis für eine solch schwerwiegende Aussage!

Oder anders gesagt: Einmal angenommen, zwei Leute melden sich bei der Online-Studie aus Spaß als Freikirchler und AfD-Wähler an, dann hätten wir schon den ausgewiesenen höheren Anteil an Freikirchlern, die AfD wählen.

Man könnte auch anders argumentieren: Einmal angenommen, die Freikirchler, die ihre Stimme abgaben, stammten zu einem größeren Prozentsatz aus den Neuen Bundesländern als die anderen Protestanten und die Katholiken, würde das alleine den Unterschied erklären, denn in den Neuen Bundesländern ist der Anteil er AfD-Wähler wesentlich höher als in den Alten Bundesländern.

Jedenfalls: Solange nicht offen gelegt wird, wie sichergestellt wurde, dass diese Online-Umfrage repräsentativ ist und genügend Interviewte für jede Gruppe aus jedem Bundesland ausweist, darf man solche Anfragen stellen.

Und selbst wenn tatsächlich der Prozentsatz etwas höher wäre, wäre die erste Frage immer: Liegt das an der Kirchenzugehörigkeit oder an anderen Faktoren wie zum Beispiel dem Alter der Antwortenden usw.

Und schließlich, wie das bei Umfragen so ist, kann das Ganze zwei Monate später schon wieder völlig anders sein. [Vgl. zur Kritik an der Umfrage auch: Peter Jörgensen. „Sind Freikirchen für AfD-Positionen empfänglicher?“. S. 63–76 in: Wolfgang Thielmann (Hg.). Alternative für Christen? Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion. Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn, 2017.]

Im Übrigen wird leicht vergessen: Selbst wenn die Umfrage stimmt, heißt das, dass die ganz große Mehrheit der Freikirchler nicht die AfD befürworten, was jeden Gedanken, es gäbe einen gewissen Hang von Freikirchlern irgendwohin Lügen straft.

Wenn bei einer Landtagswahl 20% oder 5% der Wähler AfD wählen, gehe ich erst einmal davon aus, dass auch 20% bzw. 5% der Evangelikalen AfD gewählt haben. Zugleich hieße das auch, dass 80% oder 95% der Evangelikalen die AfD nicht gewählt haben. Selbst wenn der Prozentsatz etwas höher angegeben würde, wäre das für mich keine Grundlage für eine pauschalisierende Aussage, denn bei der kleinen Zahl der Befragten kann die Frage, ob zwei befragte Wähler nun als evangelikal gelten oder nicht, schon den Unterschied ausmachen.

Eine frühere Umfrage

Noch erstaunlicher ist: Dasselbe Meinungsforschungsinstitut mit demselben Auftraggeber ermittelte im April 2016, dass Freikirchler genauso häufig wie andere Protestanten, aber seltener als Katholiken und Konfessionslose in der Sonntagsfrage für die AfD votierten. Diese Umfrage wurde von den großen Medien jedoch ignoriert. Sie passte wohl nicht ins gewünschte Bild. Die grundsätzlichen methodischen Bedenken bleiben. Dennoch möchte ich meinen Kommentar vom 24.06.2016 hier zitieren:

Evangelische Freikirchler unterschreiten die durchschnittliche Zustimmung zur AfD deutlich

Das Meinungsforschungsinstitut INSA-Consulere aus Erfurt stellte Ende April die Sonntagsfrage, teilte die Ergebnisse der Parteien aber nach Konfessionszugehörigkeit auf.

Mich interessieren hier nur die Ergebnisse für die Partei ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD). Denn immer wieder wird in der Presse unterstellt und gerne von Seiten kirchlich gebundener Kommentatoren verstärkt, es gäbe eine besondere Nähe der Mehrheit der Evangelikalen und der Freikirchler zur AfD oder wenigstens zu rechtspopulistischen Positionen, die weit über die durchschnittliche Unterstützung in der Gesamtbevölkerung hinaus gehe. Wehren kann man sich gegen solche Vorwürfe selten, Millionen hören oder lesen sie ohne je eine Gegenmeinung zur Kenntnis nehmen zu können.

Bei konfessionellen Umfragen ist es sehr schwer, nach ‚Evangelikalen‘ zu fragen, die sich nicht nur in den Freikirchen finden, sondern als mehr oder weniger große oder kleine Strömungen in allen Kirchen. Aber die Zugehörigkeit zu Freikirchen ist klar eingrenzbar, weswegen INSA-Consulere Katholiken, landeskirchlichen Protestanten, Freikirchler und Konfessionslose unterscheidet.

13,5% aller Befragten wollten am Befragungstag die AfD wählen. Unter Konfessionslosen ist der Zuspruch mit 16,5% im Durchschnitt höher, unter Katholiken nur wenig niedriger als im Durchschnitt (13,2%). Bei landeskirchlichen Protestanten (10,1%) und Freikirchlern (10,2%) ist der Durchschnitt deutlich niedriger.

Kurzum: Unter freikirchlichen Protestanten (mit einem sehr hohen Anteil an Evangelikalen) und unter landeskirchlichen Protestanten (mit einem kleineren Anteil an Evangelikalen) ist die Zustimmung zur AfD gleichermaßen unterdurchschnittlich. Eine oft behauptete innere Affinität irgendeiner Spielart des Protestantismus zur AfD oder zu rechtspopulistischen Positionen ist eher ein Beweis für die Vorurteile derer, die das behaupten, als ein Beweis für irgendeine Art von Investigation über rechtspopulistische Haltungen im evangelikalen Bereich.

Auch wenn oft eine starke Überschneidung von Evangelikalen und Pegida behauptet wird, dürfte eine Befragung hier ähnliche Ergebnisse erbringen.

Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, ob es Evangelikale gibt, die die AfD oder Pegida unterstützen. Natürlich gibt es die, es gibt sie in jeder Bevölkerungsgruppe und -schicht. Es geht darum, ob diese Unterstützung 1. weit überdurchschnittlich ist oder gar die Mehrheit der Evangelikalen kennzeichnet und 2. darum, ob Evangelikale rechtspopulistische Positionen unterstützen, weil sie Evangelikale sind und der evangelikale Glaube einen AfD-afin macht. Beides ist durch nichts zu belegen.

Meine Bücher gegen „Rassismus“, gegen „Fundamentalismus“, pro „Multikulturelle Gesellschaft“ und meine vielen Bücher pro Religionsfreiheit oder auch meine Stellungnahme gegen Pegida sollten immerhin auch eine Rolle bei der Frage spielen, wo Evangelikale theologisch und gesellschaftlich stehen.

Ich empfinde jedenfalls pauschale Verurteilungen aller oder der meisten Evangelikalen als rechtspopulistisch oder gar als rechtsradikal als ebenso perfide und ungeheuerlich wie die pauschale Gleichsetzung von Muslimen mit Terroristen.

NDR-Recherche-Tagung

Bei einer NDR-Recherche-Tagung war es im Gespräch „Unterschätzte Fundamentalisten: Recherchen im christlichen Milieu“ vom 09.06.2017 mit Peter Wensierski, Spiegel, Christian Baars, NDR und Oda Lambrecht, NDR, Peter Wensierskis Hauptthese, dass der christliche Fundamentalismus bei Katholiken und Evangelikalen Wegbereiter des politischen Fundamentalismus sei.

Diese These geht natürlich weit über die Behauptung hinaus, Fundamentalisten würden überdurchschnittlich häufig die AfD favorisieren. Und sie ist noch nie von einem Wissenschaftler vertreten, geschweige denn durch Untersuchungen belegt worden. Solche Thesen über die Evangelikalen vertritt ausschließlich eine – am Ende erstaunlicherweise sehr – kleine Zahl von Journalisten. Als Belege führen sie das Reden und Handeln einzelner Evangelikaler oder Freikirchler an. Nur kann man mit solchen Argumenten jeder beliebigen Gruppe das Versagen einiger ihrer Mitglieder als typisch für sie zuschreiben. Ist die SPD eine Pädophilenpartei und Pädophilie unter SPD-Mitgliedern besonders verbreitet, weil SPD-Bundestagsabgeordnete wegen Besitz von Kinderpornographie zurücktreten mussten? Natürlich nicht!

Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion an der Universität Bonn, bei der mein Gegenüber praktisch erklärte, Evangelikale seine psychisch labil, von Ängsten geplagt usw. Ich sagte sinngemäß: Natürlich gibt es unter Evangelikalen schwarze Schafe, psychisch Kranke, Kriminelle, Rechtsextreme, Heuchler und vieles mehr, wer hätte das je bestritten. Aber wo ist der Beleg, dass deren Anteil unter Evangelikalen wesentlich höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt? Obwohl er sich seit Jahren damit beschäftigt hatte, konnte er weder einen Beleg liefern noch hatte er selbst je eine solide Studie dazu initiiert.

„Gerade im Wahljahr wird die Verbindung zwischen christlicher und politischer Rechter immer stärker.“

Einen Beleg bleibt Wensierski schuldig. Ich würde eher den gegenteiligen Trend sehen. Die „Christen in der AfD“ haben im Wahlkampf deutlich an Einfluss verloren, an der Parteispitze und auf dem Parteitag spielen sie keine Rolle. Je mehr rechtsextreme Töne in der AfD zu hören sind, desto zurückhaltender werden viele Evangelikale. Denn sie sind traditionell eher projüdisch und Pro-Israel. Je mehr die AfD Antisemitismus und eine Verharmlosung der Judenverfolgung im Dritten Reich zulässt oder Spitzenvertreter sie sogar fordern und fördern, desto unwählbarer werden sie für viele Israelfreunde. So gehören etwa die „Sächsischen Israelfreunde“ zu den starken evangelikalen Institutionen in Sachsen, die die Verharmlosung des Dritten Reiches ständig geißeln. Und die völlige Vorherrschaft von Patchworkfamilien in der Parteiführung der AfD entzieht ihnen die Unterstützung von vielen konservativen Katholiken und Evangelikalen.

Der Umstand, dass es (leider) eine beliebte Entscheidung unter ‚Frommen‘ ist, gar nicht wählen zu gehen, sei hier nur am Rande erwähnt.

Vor allem unter den Evangelikalen in den Freikirchen – und dies vor allem in bestimmten Freikirchen –, aber auch unter Evangelikalen, die in Werken wie dem CVJM oder Micha engagiert sind, gibt es parallel zu den evangelischen Landeskirchen eine starke Strömung, die wegen Themen wie Armutsbekämpfung, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Friedensorientierung, Rüstungsindustrie für SPD und Bündis90/Die Grünen eintreten und die CDU und CSU für unwählbar, ja unchristlich halten. Nicht zufällig spricht man hier von Linksevangelikalen. Warum wird das in solchen Berichten nie erwähnt?

Ein Beispiel

Waldemar Birke ist russlanddeutscher Christ, nachgerückter AfD-Stadtrat in Pforzheim und Bundestagskandidat der AfD. Er beklagt vehement, alle Parteien hätten die Russlanddeutschen ignoriert und äußert sich vehement pro Russland und pro Putin. Besagt das, dass die Russlanddeutschen rechts von der CDU stehen? Das Beispiel der AfD in Pforzheim ist in den Medien derzeit sehr beliebt und verbreitet.

Was aber ist mit dem russlanddeutschen Christen Andreas Maurer, der Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linken im Kreistag des Osnabrücker Landes ist, nach 14 Jahren CDU-Mitgliedschaft? Seine Argumentation ist mit der von Birke fast deckungsgleich. Die Russlanddeutschen seien in politischen Leitungsgremien kaum vertreten, die Parteien bemühten sich nicht um sie. Daneben protestiert auch er gegen die Sanktionen gegen Russland.

Sicher ist das Gefühl, vernachlässigt worden zu sein und die Orientierung pro Russland unter Russlanddeutschen sehr weit verbreitet, die übrigens kirchlich und weltanschaulich ein sehr weites Spektrum abdecken. Aber wie sich das politisch äußert, in Wahlenthaltung, dem Engagement in einer bestimmten Partei oder anders, ist schwer vorherzusagen und jedweder Aussage dazu müsste gründliche Forschung vorausgehen. Ich habe viele russlanddeutsche Gemeinden verschiedener theologischer Richtungen besucht, es ist praktisch unmöglich, sie über einen Kamm zu scheren: Jede hat ihre eigene Geschichte, eigene Prägung und ihre eigenen prägenden Gestalten unter Pastoren und Ältesten.

Spiegel 20/2015

Wensierski hat die Evangelikalen nicht das erste Mal mit pauschalisierenden Behauptungen auf dem Kieker.

In einem Artikel im „Spiegel“ 20/2015 von Mareike Ahrens, Jan Friedmann und Peter Wensierski „Böse Geister sind Realitäten“ geht es gegen „Evangelikale Gemeinden“. Sie sorgten für „Aufsehen“, seien für die Kirchen „ein Ärgernis“. Aufsehen, ja Ärgernis erregen, wer tut das nicht, zumindest wenn er will, dass er in die Medien kommt? Sie verkünden „erzkonservative Werte“, was immer das ist. In einen Verfassungsschutzbericht haben sie es damit jedenfalls noch nicht geschafft …

Dass sie „Gruppen am Rand des Protestantismus“ sind, finde ich schon fast komisch, angesichts des Umstandes, dass es weltweit grob gesagt dreimal so viele evangelikal orientierte Protestanten (einschließlich Pfingstler) als andere Protestanten gibt. Der Vatikan ist sich jedenfalls im Klaren darüber. Und selbst wenn das so wäre. Seit wann stehen bei uns Randgruppen unter Generalverdacht?

„Konservative Christen versuchen immer wieder, etwa in Baden-Württemberg, konkret Einfluss zu nehmen …“

Ach du lieber Schreck. Wer macht denn in einer Demokratie so etwas Böses? Interessant wäre, wem der Spiegel noch alles untersagt, Einfluss zu nehmen, und ob er vielleicht demnächst selbst ein Fasten in Sachen Einflussnahme ausruft?

Da gibt es Evangelikale, von denen „Proteste … geschürt“ wurden. Mal abgesehen davon, dass die Sprache für einen demokratischen Vorgang unangemessen ist: Seit wann ist es einer bestimmten Gruppe von Millionen von Deutschen in unserer Demokratie verboten, zu protestieren? „Schüren“? Der ganze Artikel setzt die Evangelikalen sprachlich ins Abseits. Sie „wettern“ – welcher Politiker und welche Bürgerrechtsbewegung tut das nicht? „Spenden fließen reichlich …“ Also macht der Spiegel ab jetzt Front gegen jeden, der reichlich Spenden bekommt? Es geht dabei um eine Freikirche, die sich nur durch Spenden finanziert. Ist der Wunsch des Spiegels also, dass sie stattdessen auf das System der Kirchensteuer umschaltet?

Die Autoren machen unter den Evangelikalen mit großer Sorge Milieus aus, „abgeschottet vom Rest, mit großer Skepsis zu großen Institutionen, Rechtsstaat und Demokratie“. Gerne würde man mal ein konkretes Beispiel erfahren, so eine Art evangelikales Kreuzberg, möglichst mit geografischem Bezug. Traditionell haben die Evangelikalen einen überdurchschnittlich hohen Respekt vor dem Rechtsstaat und sind unter Beamten und Beamtinnen stark vertreten. Und – auch das muss man ja fragen dürfen: Wie ist es um die Zustimmung zu unserem Staat unter Kollegen von Wensierski bestellt, besonders auch mit solchen mit ähnlicher Weltanschauung? Zahlreiche Umfragen und Untersuchungen unter Journalisten zeigen jedenfalls, dass die Journalisten in ihrem politischen Denken weit vom Normalbürger und dem gesellschaftlichen Durchschnitt entfernt sind, wie sie jüngst Hans Mathias Kepplinger in seinem Buch „Totschweigen und Skandalisieren: Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken“ (Köln: 2017) nachgezeichnet hat.

Wie dünn die Argumentation ist, zeigt die Aussage:

„Viele Evangelikale sprechen, ähnlich wie Pegida-Anhänger, nur ungern mit Journalisten.“

Diese vermeintliche Gemeinsamkeit zwischen Evangelikalen und Pegida ist wirklich an den Haaren herbeigezogen. Gibt es also auch eine bis jetzt nicht aufgedeckte Gemeinsamkeit zwischen Aldi und Pegida? Ist jeder, der ungern Interviews gibt, also Pegida-Anhänger? Zudem gibt es im Gegenzug genügend Evangelikale, die sich intensiv um die Medien bemühen und als Interviewpartner jederzeit zur Verfügung stehen. Denn in jeder x-beliebigen Gruppe – z. B. bei den katholischen Bischöfen – lassen sich Verantwortliche finden, die gerne, und solche, die ungerne mit den Medien reden. Irgendeinen Rückschluss auf ihre politische oder religiöse Haltung lässt das nicht zu. Gerade der jüngst verstorbene Kardinal Meisner, der doch dem Feindbild von Wensierski genau entsprechen müsste und der innerhalb der katholischen Bischöfe am ehesten einen rechten Flügel repräsentierte, sprach pausenlos mit den Medien. Und ironisch gefragt: Hätte man nicht auch erwähnen können, dass die meisten Evangelikalen wie die meisten Pegidaanhänger Auto fahren?

Insgesamt ist denn auch in dem Artikel am dürftigsten der Versuch, eine Beziehung zwischen Evangelikalen und AfD herzustellen. Dazu werden nur tatsächliche und auch nur vermeintliche thematische Gemeinsamkeiten zitiert, die Unterschiede in anderen Fragen bleiben ausgeblendet. So engagieren sich viele Evangelikale überdurchschnittlich für Flüchtlinge, als soziale Hilfe, oft aber auch aus missionarischen Gründen, und unterhalten enge Kontakte zu Migrantengemeinden und lehnen ein völliges Schließen der Grenzen für Flüchtlinge und Verfolgte (und damit etwa auch verfolgte Christen) ab. Das machen auch mehrere Statements pro Flüchtlinge der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) deutlich (die natürlich hier nicht mit den Evangelikalen gleichgesetzt werden sollen). Das unter den Führungskräften der AfD praktisch keiner in einer traditionellen, biologischen Ursprungsfamilie lebt, ist auch nicht gerade hilfreich, die CDU hat da immerhin eine stattliche Liste zu bieten. Der Antisemitismus stößt viele evangelikale Israelfreunde ab.

Spiegel 18/2008

Vor fast zehn Jahren behauptete Wensierski im „Spiegel“ 18/2008, die Evangelikalen wollten die politische Macht. Als Beweis führt er an, dass Vertreter der Deutschen Evangelischen Allianz mit Spitzenpolitikern Gespräche führen. Da würde ich doch gerne anfügen: Noch schlimmer, es gibt evangelikale Bundestagsabgeordnete und Politiker. Ja und? Wer einige Prozent der Bevölkerung bildet, darf doch auch im Bundestag vertreten sein, oder?

Komisch: Jahrzehntelang wurden wir als „die Stillen im Land“ verspottet und es wurde kritisiert – teils zu Recht, teils zu Unrecht –, dass wir uns nicht für Politik und Gesellschaft interessierten. Jetzt hat sich das geändert und wir erheben in einer Demokratie unsere Stimme im großen Konzert der Meinungen und nun ist das auch schon wieder falsch! Will Wensierski, dass wir von der Demokratie ausgeschlossen werden?

Im Übrigen: Der „Spiegel“ will also keine politische Macht? Das Gegenteil ist wahr: Der Spiegel ist ein starker politischer Machtfaktor. Demgegenüber ist jeder Wähler aufgefordert, politische Macht zu wollen und die zu wählen, die Politik am ehesten in seinem Sinne gestalten. Sollte der Spiegel eine Bevölkerungsgruppe von ihren demokratischen Rechten ausschließen wollen, möge er sich an den Verfassungsschutz und an das Bundesverfassungsgericht wenden. Wer vom Verfassungsschutz noch nicht einmal zur Beobachtung vorgeschlagen wurde, dürfte in Deutschland kaum zu den Gefahren der Demokratie gehören.

Spiegel 9/2015

In einem Artikel im „Spiegel“ 9/2015 hatte Wensierski statt der Evangelikalen in gleicher Machart konservative Katholiken im Visier.

„Vor allem die katholische Kirche hat ein Problem mit rechtslastigen Gläubigen.“

Dort schließt er von einem katholischen Priester, der gegen die Haltung seiner Bischöfe pro Flüchtlinge öffentlich protestierte, auf die „Allianz“ zu konservativen Christen und von dort zu „Glatzen“, „Junge Freiheit“ und AfD. Mit seiner Methode, wer wen kennt und wer irgendetwas gemeinsam hat, würde ich mich trauen, jeden Bürger mit den Fehlern jedes anderen Bürgers in Verbindung zu bringen.

Für alle Christen, die insgeheim denken, konservative Katholiken und Evangelikale träfe es doch irgendwie zu Recht: Sein wahres Gesicht zeigt Wensierski in der Mitte des Artikels, wo er sich auf eine (umstrittene und logischerweise parteiliche) Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung beruft, nach der „Gläubige beider Kirchen für rechtsextreme Einstellungen anfälliger waren als Konfessionslose“ (Hervorhebung von mir). Auch sonst finden sich in Wensierskis Texten immer auch Breitseiten gegen Christen und Kirchen an sich.

Das passt dazu, dass Wensierski bei der NDR-Recherche-Jahrestagung allen Journalisten das Thema Kirchen empfiehlt, da es ein sehr „intransparenter“ Bereich sei. Wohlgemerkt: Nichts gegen Recherchen im Bereich Kirchen, schon das Neue Testament berichtet äußerst kritisch über die realen Gemeinden, wie etwa die in Korinth. Aber der Hauch der Generalverdächtigung aller Kirchen und aller ihrer Mitglieder liegt bei Wensierski immer in der Luft.

Ich glaube, dass viele Kirchenkritiker, die früher problemlos hätten gegen die Kirchen und die Christen hätten schreiben können, stellvertretend gegen ungeliebte Teile der Christen schreiben, da der Mainstream eine solch pauschale Verurteilung nicht mehr gerne sieht oder hin nimmt, weswegen inzwischen alle Parteien ihre Gruppierung „Christine in der NN“ haben. So sucht man sich vermeintliche christliche Randgruppen heraus, deren Verunglimpfung eher geduldet wird, gemeint ist aber oft nach wie vor, der christliche Glaube an sich.

Liane Bednarz „Die Radikalen“ in FAZ Online 01.02.2016

An dieser Stelle soll noch ein Artikel von Liane Bednarz erwähnt werden [Liane Bednarz. „Die Radikalen“. FAZ Online 01.02.2016], in dem dieselbe These vertreten wird:

„Konservative Katholiken und Evangelikale haben endlich eine politische Kraft gefunden, die zu ihnen passt: die AfD. Sie machen Stimmung gegen Flüchtlinge und den Papst. Die neuen Helden heißen Putin und Orbán.“

Dass AfD und Evangelikale einfach zusammenpassen, ist schlicht Unsinn. Es ist doch unstrittig, dass wenigstens 85% der Evangelikalen andere Parteien bevorzugen. Jeder Mensch hat vermutlich mit jeder Partei einige Übereinstimmungen, nur eben bei der einen mehr und bei der anderen weniger, oder bei der einen die, die ihm wichtig sind, bei der anderen an für ihn unwichtig(er)en Punkten.

Dass aber das Kernprogramm der AfD typisch evangelikal sei, kann ich nicht erkennen, nämlich Austritt aus der EU (ich folge hier dem Parteiprogramm), Einschränkung der Religionsfreiheit und vor allem das im ersten Satz geäußerte Ziel, Deutschland müsse zu einstiger wirtschaftlicher und geistiger Größe zurückkehren – als gingen wir im Moment durch eine gewaltige Wirtschaftskrise. Und man mag das ja so oder so einschätzen und Papier ist ja geduldig, doch ist bei der CDU und CSU viel häufiger von christlicher Motivation die Rede, die im Wahlprogramm der AfD völlig fehlt. [Ich verstehe das nicht als Wahlempfehlung, es geht hier nur um die Frage, wie viel Sinn die Aussagen über die Allianz von AfD und aktiven Christen machen.]

Bednarz arbeitet übrigens wie Wensierski mit negativen Zuschreibungen von Gemeinsamkeiten, die eigentlich absurd sind.

„Widerspruch ist in diesen Kreisen unerwünscht.“

Hat sie methodisch sauber recherchiert, dass das hier häufiger der Fall ist als sonst im Durchschnitt? Wenn das ein Kennzeichen von Rechtspopulisten wäre, müsste die AfD längst die absolute Mehrheit haben.

Bednarz macht den Feind bei „Rechtskatholiken und evangelikalen“ (sic) aus. Das heißt, bei den Katholiken sind es nur die rechten Katholiken, bei den Evangelikalen aber sind es nicht nur die ‚Rechtsevangelikalen‘, sondern alle Evangelikalen! Also auch die, die etwa SPD oder Bündnis90/Die Grünen wählen?

„Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die AfD Parole ‚Mut zur Wahrheit‘ wie ein Magnet auf radikale Christen wirkt.“

Wieder: Hat sie das recherchiert? Kann sie das belegen? Nach dem ersten Augenschein dessen, was man öffentlich so sieht, kann ich das nicht erkennen. Ja, es gibt auch unter Katholiken und Evangelikalen Unterstützer der AfD, aber dass es hier eine natürliche Allianz gäbe, die sowohl die AfD anspricht und ausnutzt als auch die Evangelikalen irgendwie erkennbar in großen Zahlen von den anderen Parteien, auch von der CDU und CSU, wegtreibt, ist reine Vermutung.

 

Ein Kommentar

  1. Jonathan Hirsch sagt:

    Vielen Dank für diesen ausführlichen und Klarheit schaffenden Kommentar. Leider sind viele Journalisten in Bezug auf Evangelikale ebenso vorurteilsbehaftet wie die AfD hinsichtlich Flüchtlingen. Die hohe Komplexität des evangelikalen Milieus, auch bei der politischen Orientierung, wird leider kaum wahrgenommen. Bei einigen Kommentaren (wie den von Ihnen beschriebenen) in der Presse hat man den deutlichen Eindruck, so sehr dieser sich gegen die AfD richten soll, dass dem Autor die Verunglimpfung bestimmter anderer Gruppen, zum Beispiel theologisch konservativer Christen, wichtiger ist.

    Ich vermute schon, dass die AfD mit ein paar wenigen Sätzen ihres Programms (bspw. gegen Abtreibung und Homoehe) versucht, konservative Christen anzusprechen. Auch wenn der Anteil der AfD-Wählet unter ihnen ein wenig höher sein sollte, bleibt festzuhalten: Die Mehrheit der Evangelikalen fällt darauf nicht herein und erkennt die Widersprüche sowohl in Teilen des Programm als auch der Parteispitzen zum Christentum. Das sollte auch in der Presse hervorgehoben werden, um die gesellschaftliche Allianz gegen den Rechtspopulismus zu stärken, anstatt, wie im FAZ-Artikel, für theologisch Konservative praktisch die Wahl der AfD zu empfehlen.

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